16. Kapitel

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Die Sonne war schon aufgegangen, doch nur wenige ihrer Strahlen drängten sich durch die Blätter.
Wir standen vor dem Grab, welches die ganze Nacht lang, mit Händen und Stöcken gegraben hatten.
Meine Fingerkuppen waren Eiskalt und taten immernoch weh.
Abygail steckte ein selbstgemachtes Holzkreuz in die Erde und stellte sich neben Peter.

"Du hast getan was du tun konntest."
Hörte ich Peter ihr zuflüstern.
Er hatte recht, ohne Abygail wäre Frank schon viel früher gestorben.
Aber wenn ich, Jason und Lilly uns noch ein wenig mehr beeilt hätten...
Entschlossen schob ich den Gedanken weg.
Meine eine Hand umschloss das kleine Fläschchen mit dem Gegengift in meiner Tasche.
Vielleicht hätte es auch gar nicht gewirkt.

In diesem Wald gab es keine Blumen, deshalb hielten wir alle ein schönes buntes Herbst Blatt in der Hand.

Peter trat vor, legte sein goldgelbes Blatt auf die umgegrabene Erde.
"Für einen netten Zeitgenossen!"

Abygail ließ ihr Orangenes Blatt neben das von Peter nieder.
"Für einen tapferen Beschützer!"

Lilly legte ihr Blatt ebenfalls auf Franks Grab, schwieg jedoch.

Jason, der neben mir stand ging nun auch einen Schritt nach vorne.
Das gelbe Blatt mit dem roten Muster segelte auf die Erde.
"Für einen guten Freund."

Ich war dran, doch ich konnte nicht.
Was war das richtige Wort für jemanden, der sein Leben riskierte, um seine Freunde, seine Familie und die Bewohner unseres Dorfes zu beschützen?
Da erinnerte ich mich an Johns Worte und ich wusste es.
Ich fand das Wort, das auf all dies Zutraf.
Auf diese Stärke und diesen Mut.

Noch einen Moment starrte ich mein rotes Ahornblatt an, über das sich gelbe Streifen zogen.
Ich sah, wie es aus meiner Hand glitt und langsam auf das Grab von Frank nieder segelte.

"Für einen wahren Helden."

Wir ließen uns die Zeit die wir brauchten, um einigermaßen damit zurecht zu kommen, um zu verstehen das es nun ein Mitglied weniger in unserer Gruppe gab.

Lilly lehnte an einem Baumstamm, kaute auf einem Brot herum und spähte zu Abygail herüber, die mit Peter vor Franks Grab hockte.
Ich und Jason hatten uns ebenfalls auf den Boden gesetzt.
Ich starrte die Blätter, die sich auf dem Waldboden verteilten an, wie als Ablenkung.
Um nicht mit den Gedanken an Frank kämpfen zu müssen, denn so kamen auch die Erinnerungen an Alan wieder.
Seine Matt-schimmernden Augen...
Die Blätter.
Manche waren noch bunt, andere schon braun.

"Das hast du schön gesagt", meinte Jason leise. "Das mit dem Helden."
Ich nickte zögernd und zwang mich zu einem leichten Lächeln.

"Das ist das, was er war, ein Held. Das seid ihr alle."
"Das bist du auch, Evelyn" sagte Jason entschlossen.
"Ich bin auf diese Reise gegangen um meiner Strafe zu entkommen", erwiderte ich.
Er schüttelte nur den Kopf.
Er wusste, daß es nicht die ganze Wahrheit war, deshalb fügte ich noch hinzu.

"Und auch wegen Alan. Ich will wissen wer ihn wirklich getötet hat."


Die Stimmung blieb gedrückt.
Wir verbrachten den ganzen Vormittag bei Franks Grab.
Lilly hatte sich auf den Weg gemacht um für uns etwas zu jagen, da nichts mehr in den Rucksäcken war.
Sie hatte darauf bestanden, alleine zu gehen, als ich ihr angeboten hatte, mit zu jagen.

Ich wickelte meine Jacke enger um den Körper.
Das Moos auf dem Boden war nach dem Regen nicht wieder trocken geworden und die Nässe zog sich wie ein kalter Schauer in meinen Körper.

Jason hockte neben mir, den Kopf an den Baumstamm hinter ihm gelehnt.
Er starrte in die Blätter über uns, zwischen denen nur wenige Fitzelchen des Himmels hervorlugten.

Peter hatte gerade damit begonnen, trockene Äste auf einen Stapel zu schichten um ein Feuer zu entfachen.
Keiner von uns fürchtete noch, daß die Feinde uns deswegen fanden.
Sie hatten uns ja schließlich auch angegriffen, als kein Feuer brannte, als wir still durch den Wald gezogen waren.
Was machte es aus?
Sie würden uns früher oder später kriegen.

Plötzlich raschelte es im Gebüsch.
Jason sprang auf, zog das Schwert geschmeidig aus dem Gürtel.
Während ich hochfuhr, sah ich aus dem Augenwinkel, wie Abygail einfach sitzen blieb.
Nur einen kleinen Blick schenkte sie dem Gebüsch, dann wandte sie sich wieder dem Grab zu.
Ihr schien es egal zu sein, ob die Feinde wiederkamen, ob sie deswegen starb.
Es machte ihr mehr zu schaffen, als uns anderen.

Ich griff in den Köcher und legte einen Pfeil an die Sehne, bereit abzuschießen.

"Hey! Ich bins nur!" Kam eine mir vertraute Stimme aus dem dunklen Laub.
Ich ließ den Bogen sinken, fühlte wie etwas in meiner Brust wieder leichter wurde.
Lilly trat aus dem Gebüsch, sie schleifte etwas hinter sich her.
Es war ein mageres Wildschwein.
Das wenige Fell hing über den dürren Körper, dunkle, leere Augen starrten in die Ferne.
An dem Vorderbein klaffte eine offene Wunde.

"Ich habe es halb tot im Wald gefunden." Lilly runzelte die Stirn. "Ich hoffe es ist essbar..."
Abygail erhob sich und kam langsam zu uns herüber.
Nachdem sie einen prüfenden Blick auf die Wunde geworfen hatte, murmelte sie ein knappes.
"Ist essbar, eine natürliche Wunde, ohne Infektion. Das Schwein ist zwar abgemagert, aber nicht krank."

Mit diesen Worten machte sie kehrt und begann weitere trockene Äste zusammen zu sammeln.
Peter sah ihr besorgt hinter her, Lilly zuckte nur die Schultern und machte sie daran, daß Schwein in Richtung Feuerstelle zu schleifen.

Wenige Minuten später hatten ich und Jason das Feuer entfacht, während Lilly das Schwein ausnahm und es schließlich auf einem heißen Stein im Feuer briet.

Die Flammen stoben in die Höhe, der Rauch drang durch das dichte Blattwerk über uns.
Als ich den ersten Bissen von dem Fleisch nahm, merkte ich, wie viel besser die Wildschweine zuhause geschmeckt hatten.
Zuhause.
Der Ort, den es nicht mehr gibt. Dachte ich bitter.
Das Fleisch hier war so fest wie Leder und hinterließ einen seltsamen Nachgeschmack im Mund, aber trotzdem merkte ich erst jetzt, wie viel Hunger ich hatte.

Nachdem ich den Bissen heruntergeschluckt hatte, sah ich in die Runde.
Mir lag eine Frage auf der Zunge.
Es war eine Frage, die unsere schlechte Stimmung noch mehr verstärken würde, unsere Ungewissheit, aber auch unsere Angst, die wir alle nicht zeigen wollten.

"Warum war Mason bei den Feinden?
Wieso hat er uns angegriffen?"



Hey!
Endlich mal wieder ein neues Kapitel!
Wie fandet ihr es?
Ich hoffe es hat euch gefallen!
❤️

Bis bald!

Evelyn Rose - GefangenschaftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt