Kapitel 9 - Offene Rechnungen begleichen

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Sie:

Ich sitze auf einer Metallbank auf dem Pausenhof der Schule. Die Bank ist etwas abgelegen vom Gebäude, was mir gerade recht kommt. Mein Sandwich halte ich in der Hand, bekomme jedoch keinen Bissen runter. Gerade als ich aufblicke, sehe ich wie Xavier am Schulgebäude entlang läuft, seine Hände hat er in den Hosentaschen versteckt. Ich denke mir: Wieso kommst du nicht zu mir? und blicke wehleidig in seine Richtung. Abrupt bleibt er stehen und sieht mich an, dann kommt er auf mich zu.
Als ich ihm in die Augen sehe, während er auf mich zukommt, blitzen einzelne Bilder von meinem gestrigen Traum in meinem Kopf auf. Ein kalter Schauder durchfährt meinen ganzen Körper. Er setzt sich neben mich hin, sein Blick ist hart, seine Augenbrauen zusammengezogen.
,,Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich so etwas tun würde?'', fragt er mich eindringlich.
Ich sehe ihn verwundert an. Plötzlich fällt mir ein, dass er meine Gedanken gelesen hat und nun vom Traum weiss und spricht. ,,Natürlich nicht'', sage ich möglichst überzeugend. Doch es bringt nichts wenn ich versuche ihn zu täuschen, er wird die Wahrheit stets in meinen Gedanken hören. Sein Blick wird wieder weich und nichts erinnert mich mehr an das Monster aus meinem Traum, dessen Blick so tödlich und unberechenbar war. Plötzlich nimmt er meine Hand und drückt sie leicht. ,,Dich zu töten, wäre das Schlimmste und Unverzeihlichste dass ich je tun könnte. Mit dieser Bürde könnte ich nicht leben.''
Mein Herz klopft schneller und Xavier streicht mir eine Haarsträne aus dem Gesicht. Plötzlich steht er auf und geht einfach. Ich blicke ihm nach und beobachte ihn wie er mit geschmeidigen Schritt davon schreitet. Diese Gangart ist einzigartig, er bewegt sich so elegant, grazil und männlich zugleich. Bevor er in der Schule verschwindet, wirft er noch einen Blick zurück. Ich lächle, doch meine Geste wird nicht erwidert.

Er:
Traut sie mir das wirklich zu? Denkt sie wirklich ich würde sie umbringen wollen? Es war zwar nur ein Traum, doch man sagt, dass man während man träumt, seine grössten Ängste verarbeitet. Ich putze gerade den Spiegel im Jungsklo, als zwei Typen hereinlatschen. Einen schmächtigen, blonden Jungen erkenne ich nicht, den anderen grossen, dumm grinsenden hingegen schon. John.
Er erkennt mich auch sofort und weicht einige Schritte zurück. ,,Du Mistkerl'', faucht er. ,,Wie mutig dich mit mir anzulegen'', meine ich, während ich immer noch den Spiegel poliere. Er grinst nochmals dumm und ich ahnne, als ich seine Gedanken höre, was er vor hat. Er zückt ein Butterfly-Messer aus seiner Hosentasche, dass er auf mich richtet. Sein Freund steht mit grossen Augen neben ihm und wagt es nicht auch nur ein Wort zu sagen. ,,Ich weiss nicht, was für kleine Zaubertricks du angewendet hast, aber das bekommst du zurück. Erst du und danach deine kleine Freundin.'' John stürmt auf mich zu. Da ich einen halben Kopf grösser bin als er und mindesten zwanzig Kilo schwerer, kann ich ihn locker zurückhalten. Diesmal brauche ich ihn gar nicht zu kontrollieren, eine einzige Faust in seinem Gesicht reicht schon aus, um ihn K.O zu bekommen. Sein Freund ist inzwischen schon über alle Berge. Da ich diesen Loser nicht hier verenden lassen kann, jedoch sehr gerne würde, packe ich ihn am T-Shirt und hebe ihn hoch. Nun baumelt er in meiner Hand wie ein junges Tigerbaby im Mund seiner Mutter. Sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter vom Boden entfernt. Gerade als ich die Toilette verlassen will, sehe ich wie Nevil vorbeihuscht. Er hat alles mit gesehen, da bin ich mir sicher. Als ich hinaustrete und zur Seite spähe, ist auch er verschwunden. Doch ich kann immer noch seine herablassenden Gedanken hinter der nächsten Ecke hören.

Im Krankenzimmer angekommen, erkundigt sich die Schulärztin sofort nach dem Ablauf des Unfalles. Ich meine zu ihr er währe, während ich geputzt hätte, gestolpert und auf die Nase gefallen, was die Blutung erklärt. Sie glaubt mir und ich helfe ihr John auf das Bett zu legen. Es interessiert mich nicht was mit ihm geschehen wird, ich wünsche ihm ohnehin nur das Schlimmste, deswegen verlasse ich das Krankenzimmer und widme mich wieder der Arbeit.
Nun stehe ich in einem Mädchenklo, im Ostflügel der Schule. Während ich den Boden wische, überlege ich, weshalb ich überhaupt noch hier bin. Dieser John wird sich so schnell nicht wieder an einem Mädchen vergreifen. Jedoch bereitet mir dieser Nevil Kopfzerbrechen, irgendetwas stimmt mit ihm nicht. Er ist nicht normal das spüre ich. Plötzlich durchfährt mich die Erkenntnis, dass ich die Schule nicht verlassen möchte, weil Gracie hier ist. Ich will ein Auge auf sie haben um mögliches Übel von ihr abzuwenden. Ich weiss nicht, was mich an diesem Mädchen so dermassen anzieht, doch es ist etwas unbeschreibliches, dass weder mein Vater noch meine Geschwister dulden würden. Zumindest in diesem Punkt, bin ich mir sicher.

Sie:
,,Das ist nicht dein Ernst, oder?'', fragt Fiona, meine Freundin während dem Mittagessen.
,,Naja, doch eigentlich schon.'' Sie schlägt ihre Flache hand gegen die Stirn und schüttelt den Kopf.
,,Aber doch nicht der Hausmeister! Wie alt ist dieser Typ überhaupt?!'' Ich sehe mich kurz in der Kantine um, ob Xavier irgendwo ist denn ich will nicht, dass er dieses Gespräch mitbekommt.
Als ich mich vergewissert habe, dass er nicht hier ist sage ich:,,Er ist zwanzig Jahre alt und sein Name ist Xavier.'' Plötzlich grinst Fiona und meint:,,Deine Augen strahlen wenn du von ihm erzählst!''
Ich schüttle leicht den Kopf und spüre wie ich rot werde. ,,Du magst ihn, was?'',fragt sie leise.
Manchmal frage ich mich, ob nicht auch Fiona über die Fähigkeit des Gedankenlesens verfügt. Sie weiss stets was mich beschäftigt und was in mir vorgeht. Ich betrachte ihr Gesicht während sie mir etwas erzählt und blicke dann wieder leicht verlegen auf mein Essen. Sie kann keine Gedanken lesen, das kann nur Xavier.

Als ich nach der Schule langsam zu meinem Auto schlurfe, berührt mich jemand plötzlich an der Schulter. Als ich mich umdrehe, wird mir schlecht. Nevil steht hinter mir und blickt mich durchdringend an. ,,Was ist?!'', fauche ich ihm entgegen. ,,Ich möchte mich bei dir entschuldigen, wegen der Attacke letztens.'' Seine Worte klingen aufrichtig, doch seine Augen sagen mir etwas anderes. Ich frage mich ob er lügt und falls ja, weshalb. Welchen Nutzen hat er davon, wenn ich ihm verzeihe, sei es echt oder nicht.
,,Ich nehme deine Entschuldigung nicht an'', sage ich entschlossen und gehe weiter zu meinem Auto.
Als ich einsteige und die Tür meines Jeeps schliessen will, verhindert Nevil dies. ,,Verzeih mir!'', sagt er laut. Ich schüttle den Kopf und deute auf die Autotür, die er loslassen soll. ,,Es bricht mir das Herz, Gracie, wirklich! Wie du dich mit diesem Hausmeister abgibst, obwohl du mich haben könntest!''
,,Was redest du da für wirres Zeug!'', sage ich. ,,Ich habe mich in dich verliebt, Grace'',meint Nevil und knallt die Autotür zu. Da mein Fenster hinuntergekurbelt ist, kann er weiter mit mir sprechen. ,,Bitte'',flüstert er fast schon. Ich wende meinen Blick nach vorn und erblicke beim Eingang der Schule Xavier, wie er an der Wand lehnt und uns ansieht. Ich bin überzeugt davon, dass er gerade unsere Gedanken liest und deshalb bestens über die Situation Bescheid weiss. Ich kurble kurzerhand mein Fenster hoch, zünde den Motor und verschwinde. Nevil kann mir gestohlen bleiben. Das Einzige was ich mir wünsche, ist endlich die Beachtung von dem grauäugigen Jungen zu bekommen, die ich mir so sehr wünsche. Diesen Gedanken wage ich erst zu denken, als ich genug weit von der Schule entfernt bin.

Als ich zu Hause ankomme und in der Einfahrt parke, erwartet mich jemand Fremdes. Sie ist gross, hat feuerrotes Haar und trägt, obwohl es so kalt ist, nur ein T-Shirt, unter dem sich bei genauerem Betrachten, ihre Nippel abzeichnen. Ausserdem, fällt mir an ihrem Gesicht sofort das Tattoo auf. Es ist ein Drache der sich von der Stirn bis zum Kinn schlängelt. Er sieht fast so aus wie der von Xavier, denke ich. Ich steige aus und gehe auf die Haustüre zu, sie lächelt böse und folgt mir. Bevor ich die Türe aufschliesse beginnt sie zu sprechen:,,Du bist Gracie, nicht wahr?'' Ich blicke sie prüfend an. ,,Ja, und du bist?'' Sie wirft einen Arm in die Luft, eine Geste die ich nicht verstehe und auch nicht zur Situation passt. ,,Ich heisse Numa.'' Ihr verführerischer und zugleich bösartiger Blick verunsichert mich zutiefst. ,,Was willst du?'', frage ich. Sie sagt kein Wort und sieht mich vertieft an. Plötzlich fällt mir auf, dass Xavier den genau gleichen Blick hat, wenn er sich auf die Gedanken einer Person fokussiert. Um ihr Vorhaben zu kreuzen, denke ich einfach an eine weisse Leinwand. Sofort kann ich sehen, wie ihr Blick wieder klarer wird. ,,Du weisst also Bescheid. Das wird Vater sehr interessieren'', meint sie lächelnd. Und ich frage mich, ob sie mit mir spricht oder in einem Selbstgespräch vertieft ist. Ich sage kein Wort und warte darauf, dass sie noch mehr preisgibt. ,,Wir werden uns sehr bald wiedersehen'', sagt sie mit einer Leichtigkeit in der Stimme, als würden wir uns schon seit Jahren kennen. Plötzlich wendet sie sich zum Gehen, sie tänzelt die Treppe der Einfahrt hinab und blinzelt mir nochmals zu, bevor sie mir den Rücken zuwendet.. Ich bleibe mit einem Schreck und der Gewissheit, dass Xavier nicht der Einzige seiner Art ist, zurück.

666 - Unsterbliche LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt