Kapitel 23 - Es kommt wie es kommen soll

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Sie:

Ich liege in meinem Bett und lausche den Geräuschen vor meinem Fenster. Der Herbstwind peitscht durch die Baumkronen und lässt das Laub erzittern. Mittlerweile ist es schon anfangs November. Nicht mehr lange, dann wird der erste Schnee fallen. Unwillkürlich krieche ich noch tiefer unter meine Bettdecke. Mir kommt alles so weit weg vor, dabei ist es doch erst gestern geschehen. Kurz nachdem wir unsere hitzige Diskussion über meine Flügel hatten, traten auch schon meine Mutter und mein Bruder durch die Tür. Sie waren bei einer Freundin meiner Mutter zu Besuch gewesen - zum Glück. Sofort fiel ich beiden um den Hals und musste mit den Tränen kämpfen. Ich war überglücklich gewesen, dass es ihnen gut ging und Luzifer nicht seine Hände im Spiel hatte.

Nur zu gerne hätte ich dieses Gefühl der Erleichterung jetzt wieder. Stattdessen fühle ich mich als würde ich von Angst, Ungewissheit und Gefahr geradezu erdrückt.

Mein Blick fällt auf den Wecker, der auf dem weissen Nachttisch neben meinem Bett steht. Es ist Mittwoch und bereits kurz vor Mittag. Ich frage mich wieso mich meine Mutter so lange hat schlafen lassen, schliesslich muss ich zur Schule. Sofort stehe ich auf und renne die Treppe hinunter. Von meinem kleinen Bruder ist keine Spur mehr im Haus zu sehen. Als ich die Küche betrete, erblicke meine Mutter wie sie am Tisch sitzt und über einem Buch schmökert. ,,Wieso hast du mich nicht geweckt?‘‘, will ich schliesslich wissen. Es dauert einen Moment bis sie von ihrem Buch aufblickt und mir einen liebevollen und zugleich leicht spöttischen Blick zuwirft. ,,Ich dachte nach dem ganzen Stress von gestern ist es besser wenn ich dich ausschlafen lasse.“

Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen und ich setzte mich zu ihr an den Tisch. Von welchem Stress spricht sie? Weiss sie etwa Bescheid was hier gestern vorgefallen ist? ,,Wovon sprichst du?‘‘, frage ich vorsichtig und versuche möglichst unschuldig dabei zu klingen. ,,Nevil und Elias haben mir erzählt was gestern passiert ist. Ich denke wir müssen reden.“ Ich bin erleichtert und zugleich verärgert. Erleichtert, dass ich meine Mutter nicht selbst darauf ansprechen muss und andererseits verärgert, dass sie mir mein ganzes Leben verheimlicht hat, wer und vor allem was mein Vater ist. Aber gleichzeitig verstehe ich sie auch. Es gibt einfach keinen passenden Moment seinem Kind das bislang in einer stinknormalen Welt gelebt hat, mitzuteilen, dass es ein Halb-Engel ist.

Wir sitzen uns gegenüber und ich warte darauf, dass meine Mutter anfängt zu sprechen. Um Ihr dies deutlich zu machen ziehe ich meine Augenbrauen vielsagend hoch und blicke sie durchdringend an. Sie atmet tief aus und nippt nochmals an ihrem Kaffee bevor sie zu sprechen beginnt. ,,Dein Vater hat uns verlassen als du noch ganz klein warst und ich mit deinem Bruder schwanger war. Gott hat ihn offenbar für seine Dienste benötigt.“ Leichter Spott liegt in der Stimme meiner Mutter.

,,Er hat lange mit sich gerungen ob er uns verlassen soll. Aber Gott liess ihm keine Wahl. Schlussendlich setzte er ihn so unter Druck, dass er gehen musste.“

Er setzte ihn unter Druck.

Seit ich vor einigen Monaten im Schulflur ausgerutscht und vor Xaviers Füssen gelandet bin, hat sich mein Leben grundlegend verändert. Obwohl ich auch früher nie sonderlich religiös gewesen war, habe ich während dieser Reise immer mehr den Glauben an den Herrn verloren. Mir gefällt nicht was ich damals im Internet gefunden habe, die Geschichte wie Satan und Gott aufeinandergetroffen sind. Und mir gefällt vor allem nicht wie er die Menschen behandelt. Nun zu wissen, dass ich ein Halb-Engel und mein Vater ein mächtiger Erzengel ist, der ihm dient und somit bedingungslos hinter ihm steht, macht mich fertig. Ich fühle mich plötzlich falsch und wie eine Verräterin, denn ich habe das Gefühl, ich müsse hinter meinem Vater und Gott stehen. Schliesslich ist dies doch meine Aufgabe als Engel, oder nicht?

Ich stütze meinen Kopf in meinen Händen ab und schweige. Meine Mutter streicht mir behutsam übers Haar, ein erfolgloser Versuch mich aufzumuntern. ,,Was soll ich jetzt nur tun? Satan ist hinter mir, du und Collin seid auch in Gefahr und das Schlimmste an der ganzen Sache; ich werde Xavier wahrscheinlich nie wieder sehen", meine Augen füllen sich mit Tränen. Die Situation scheint aussichtlos zu sein. ,,Wie kann ich meine Flügel dazu bringen sich zu entfalten?'', frage ich unter Tränen. Meine Mutter verzieht ihr Gesicht und antwortet dann:,,Das weiss ich leider nicht. Ich bin auch nur ein Mensch, Kleines. Da musst du schon Nevil oder Elias fragen. Ich mag zwar nicht viel über euch Engel wissen aber einer Sache bin ich mir absolut sicher." Sie strich mir nochmals über mein Haar und sah mich liebevoll an. ,,Du wirst das schaffen, Gracie. Du bist stark genug um das alles durchzustehen. Weisst du, das Gute gewinnt immer. Ausserdem können wir das Schicksal nicht beeinflussen. Es kommt wie es kommen soll. Wir können nur versuchen das Beste daraus zu machen."

Ich mache mich gerade für die Schule fertig. Das Gespräch mit meiner Mutter gestern schwirrt mir immer noch im Kopf herum. Aber sie hat Recht; das Gute gewinnt immer. Man weiss nie wie stark man wirklich ist, bis man keine andere Wahl hat als es zu sein.

Ich schnappe mir meine Schultasche, mein Handy und verlasse schnell das Haus. Als ich vor meinem alten Jeep stehe und gerade die Fahrertüre aufschliessen will, klingelt mein Handy. Es ist Nevil. ,,Ja?" ,,Hey Gracie, hier ist Nevil. Hast du heute nach der Schule Zeit?", will er wissen. ,,Wofür?", frage ich spitz. ,,Na Elias und ich wollen dir ein wenig mit deinen Flügeln helfen. Wir haben da so eine Idee wie wir sie herauslocken können." Mein Herz pocht mit einem Mal schneller, ich bin sofort Feuer und Flamme für diesen Vorschlag. ,,Abgemacht. Wo treffen wir uns?" Nevil sagt noch schnell bevor er auflegt:,,Wir holen dich nach deiner letzten Stunde ab."

Es klingelt gerade, die letzte Stunde für heute ist vorbei. Schon den ganzen Tag habe ich sehnsüchtig auf dieses erlösende Klingeln gewartet. Schnell werfe ich die Bücher in meine Tasche und stehe auf. Plötzlich kommt Fiona, meine Freundin, auf mich zu und fragt: ,,Gracie, kommst du noch mit in die Stadt? Ich möchte mir ein Kleid für meine Geburtstagsparty kaufen." Ein breites Lächeln schmückt ihr Gesicht.

Als ich sie so anschaue, fällt mir auf, dass ich ihr hübsches Gesicht schon eine Weile nicht mehr gesehen habe. Fiona, meine beste Freundin, kommt mir mit einem Mal so schrecklich fremd vor. Innerlich stöhne ich auf. Wie konnte ich nur ihren Geburtstag vergessen. Wochenlange Planung und eine Menge Herzblut stecken in dieser Party die sie organisiert hat und ich vergesse sie einfach. Aber ist doch schliesslich auch kein Wunder, bei den vielen Ereignissen der letzten Zeit.

Ich blicke auf meine Hände die ich nervös reibe und als ich aufblicke kann ich bereits die Enttäuschung in ihren Augen sehen, als kenne sie meine Antwort bereits. ,,Es- Es tut mir leid. Ich habe heute keine Zeit." Sie fährt sich schnell durchs Haar, ein Anzeichen dafür, dass ihr etwas nicht passt. Dann meint sie mit scharfem Ton: ,,Weisst du, du hast nie Zeit für mich. Ich habe überhaupt keine Ahnung mehr was bei dir abgeht. Du sprichst ja kaum noch mit mir!" Dann macht sie kehrt auf ihren Absätzen und ist verschwunden. Für einen kurzen Moment hängt noch der Duft ihres Parfums in der Luft. Es tut mir so leid, denke ich während ich aus dem Klassenzimmer auf den Flur und direkt in die Arme von Elias und Nevil laufe.

666 - Unsterbliche LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt