Kapitel 16 - Illusionen

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Sie:

Nevil steht plötzlich auf und läuft langsam und gekrümmt nach vorne zum Altar. Seine sanften Schritte hallen an den Kirchenmauern wider und mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Bevor er seine Arme um seinen Oberkörper schlingt, wirft er mir einen Blick über seine rechte Schulter zu, dann beugt sich vorne über. Plötzlich höre ich wie er schwer atmet und dann geschehen einige Dinge auf einmal; Riesige, weisse Flügel schiessen ihm aus dem Rücken und breiten sich aus. Gleichzeitig schliesst sich die Eingangstüre aus dickem, dunklen Eichenholz hinter uns mit einem lauten Knall und dann scheint auch noch die Sonne durch ein Fenster hindurch, direkt auf Nevil und hüllt ihn in ein goldenes Licht. Mittlerweile steht er kerzengerade vorne, hat seine Arme gelockert und blickt dann wieder über seine Schulter zu mir nach hinten. Erst jetzt bemerke ich, dass mein Mund weit offen steht und ich schnappe nach Luft. Mein Gehirn beginnt die Geschehnisse langsam zu verarbeiten, mein Herz rast.

Alles. Alles woran ich bislang glaubte oder eben auch nicht, wurde auf den Kopf gestellt. In was für einer Welt leben wir? Welche Kreaturen verbergen sich noch hinter den freundlichen Gesichtern auf der Strasse?

Mein Blick ruht auf Nevil, der vorne steht, eingehüllt in diesem majestätischem Licht, lächelnd. Er wirkt befreit, befreit von einer Last, befreit von einem Geheimnis. Ich merke wie ich zittere, ich glaube es ist Angst. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen; nun weiss ich wieso Nevil damals bei der Helferaktion so aufgebracht und angewidert war, als er das Buch mit den Engeln und Dämonen gesehen hat. Jetzt wird mir auch bewusst, wieso ich damals so eine Ähnlichkeit zwischen dem Engel im Buch und Nevil gesehen habe. Er ist einer von ihnen.

Schlagartig erinnere ich mich auch an die bösen Bilder in dem Buch zurück, an die Hinrichtung dieser Engel und ich frage mich ob Xavier jemals so etwas getan hat. Mich überkommt ein Fluchtgefühl. Ich glaube in der Kirche zu explodieren, wenn ich nicht sofort hinausgelange. Nevil steht immer noch vorne beim Altar und blickt mich an. Ich gehe nicht davon aus, dass er vorhat mir etwas anzutun, doch trotzdem ist es die Angst die in mir herrscht. Es ist wohl die Angst vor dem Unbekannten. Schnell laufe ich zur Eingangstüre und rüttle an der Türklinke, die sich keinen Millimeter bewegt. Dicke Schweissperlen sammeln sich auf meiner Stirn und ich werde nervös.

Plötzlich setzt sich Nevil in Bewegung, doch er läuft nicht, sondern schwebt zu mir herüber. Unablässig betätige ich die Türklinke und als er unmittelbar hinter mir steht und ich vor Furcht glaube zu sterben, öffnet sich die Türe plötzlich und ich kann nach Draussen rennen. Das Licht scheint hinein, die Türe ist nun sperrangelweit offen und Nevil geht vor möglichen Blicken in Deckung. Als ich in mein Auto einsteige, hohle ich nochmals tief Luft, bevor ich aufs Gaspedal trete und wie eine Verrückte nach Hause rase.

Er:

Wie so oft sitze ich auf meinem Sessel im Wohnzimmer und trinke ein Glas Whisky. Immerhin etwas, bei dem ich mir treu geblieben bin, denke ich. Ich bin immer noch fassungslos und kann nicht glauben was Arthur gesagt hat. Das Gute ergreift Besitz von dir. Dein Vater muss wohl gewusst haben, dass du schwach bist. Eine Frechheit, absolut töricht! Ich fühle mich einfach nur scheisse, denn in meinem Hinterkopf schleicht sich das Gefühl ein, dass Arthur vielleicht Recht hat.

Wenn ich ehrlich bin, merke ich es doch selber. Ich habe schon lange niemanden mehr böswillig kontrolliert, geschweige denn getötet. Was früher mein Lebenssinn war, scheint mir heute so weit weg. Vielleicht habe ich einen neuen Lebenssinn gefunden? Gracie?

666 - Unsterbliche LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt