Kapitel 17 - Die Kontrolle wahren

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Er:

Grelle Sonnenstrahlen scheinen durch mein Schlafzimmerfenster direkt in mein Gesicht und wecken mich. Die Luft in meinem Zimmer ist stickig und verqualmt. Ich fühle mich komisch, so dreckig. Ich sehe an mir hinunter und stelle fest, dass ich immer noch meine Strassenklamotten trage. Ausserdem kann ich mich nicht erinnern gestern nach Hause gekommen zu sein. Eigentlich ist das Letzte woran ich mich erinnern kann, wie ich mein Armband angelegt habe. Als ich mich am Kopf kratzen will, sehe ich plötzlich, dass meine Hände bedeckt mit vertrocknetem Blut sind. Sofort springe ich vom Bett auf und renne ins Bad. Als ich in den Spiegel sehe, erblicke auch noch Blut auf meinem T-Shirt und meinen Oberarmen. Sofort zîehe ich das Shirt aus, werfe es in den Abfalleimer und springe dann unter die Dusche. Mit heissem Wasser und einer halben Flasche Shampoo versuche ich das Blut abzuwaschen. Ich schrubbe und kratze mit meinen Fingernägeln das Blut ab und erst als alles weg ist, vermag ich es aus der Dusche zu treten.  

Als ich mich am Waschbecken abstütze und in den Spiegel schaue, frage ich mich was zur Hölle ich gestern getan habe.

Plötzlich trifft es mich wie ein Schlag, mein Herz beginnt zu rasen und ich bekomme Schweissausbrüche.  

Schnell schnappe ich mir ein anderes Shirt, eine Hose, meine Schuhe und renne dann aus meiner Wohnung. Was wenn das Gracie's Blut an mir war? Was wenn ich sie getötet habe? Hat das Armband so einen grossen Einfluss auf mich, dass ich gestern zu ihrem Haus zurück bin und ich mich jetzt an nichts mehr erinnern kann? Um mich selbst zu beruhigen und wohl das selbstgerechte Bild, dass ich von mir selbst habe aufrecht zu erhalten, verdränge ich ich diese Gedanken wieder, springe in mein Auto und rase zu ihrem Haus.

Dort angekommen beobachte ich das Haus, von meinem Auto aus, von aussen für einen kurzen Moment. Für mich deutet nichts auf einen Kampf oder Angriff hin. Ich beschliesse einfach den Gedanken der Bewohner zu lauschen, in der Hoffnung Gracie's zu hören. 

,,Louis, beeil dich. Dein Brei wird noch kalt!", ,,Aufstehen Kinder, ihr müsst zur Schule."  

Scheisse. Ich kann nur die Gedanken der Nachbarn wahrnehmen, nicht einmal die von Gracie's Mutter. Gerade will ich aus dem Auto aussteigen und zu ihrem Haus gehen, denn ich halte diese Ungewissheit nicht länger aus, da höre ich sie plötzlich: sie singt unter der Dusche. Mein Puls beruhigt sich und ich bin unendlich dankbar, dass nichts passiert ist. Mein ganzer Körper entspannt sich und ich starte den Motor wieder. Ein letzter dankbarer Blick in Richtung Gracie's Haus, dann fahre ich genau so schnell wie ich gekommen bin auch wieder weg.   

Während ich zurück zu meiner Wohnung fahre, überlege ich wessen Blut das war. Wen habe ich getötet? Die Tatsache, dass ich jemanden mit meinen blossen Händen, also ohne ihn zu kontrollieren, umgebracht habe ist verwirrend. Doch noch mehr beschäftigt es mich, dass ich mich an nichts erinnern kann. Ich weiss absolut nichts mehr von dem was letzte Nacht passiert ist. 

Nochmals fällt mein Blick auf das Armband - unwillkürlich muss ich lächeln.

Sie: 

Gut gelaunt knalle ich meine Autotüre zu und schlendere zum Eingang der Schule. Der Wind weht und bläst mir den blumigen Geruch meines Haarshampoos in die Nase. Alles scheint wie gewohnt zu sein, die Sportler stehen zusammen und lachen schallend, die Theatergruppe sitzt auf der Treppe zum Haupteingang und unterhält sich und einige anderen Schüler stehen drum herum und tuscheln.

Als ich bei meinem Spind ankomme und ihn öffne um meine Bücher für die Mathelektion rauszuholen, steht plötzlich Nevil neben mir. Ich zucke zurück vor Schreck, meine Augen sind weit geöffnet. 

Ich weiss nicht wie ich ihm gegenübertreten soll, nach dem was er mir gestern offenbart hat. Wie soll ich ihn jetzt noch begrüssen, schliesslich ist er ein Engel. ,,Hallo", entgegnet er mir mit sanfter Stimme.  

,,Hi", sage ich möglichst beiläufig während ich mich wieder meinem Spind zudrehe und die Hefter durchsuche. ,,Sieh mal, das wegen gestern. Ich wollte dir keine Angst machen, Gracie."  

Jetzt knalle ich die Spindtüre zu und blicke ihn missmutig an. Seine eisblauen Augen fixieren mich gespannt, er scheint auf jeder meiner Bewegungen gefasst zu sein.,,Lass mich bitte in Ruhe!", sage ich mit harter Stimme. ,,Gracie bitte. Ich wollte dir nur den richtigen Weg weisen, denn dunkle Zeiten stehen uns bevor." Ich neige meinen Kopf nach links und mustere ihn misstrauisch. Was faselt er da? Schlagartig erinnere ich mich an seine Worte gestern, von wegen ich solle mich von Xavier fernhalten. Mittlerweile schäumend vor Wut meine ich: Und wage es nicht nochmals schlecht über Xavier zu sprechen!"

Engel hin oder her, niemand macht mir Xavier madig!

Er: 

Der Fernseher ist voll aufgedreht und ich sitze - genauer gesagt liege- in meinem Sessel. 

Ich bin völlig in meinen Gedanken versunken und rauche eine Zigarette, da reissen mich die Nachrichten plötzlich aus den Gedanken.

Heute morgen wurden die Leichen von zwei New Yorker- Prostituierten in der Nähe von China Town gefunden. Sie wurden auf überaus brutale Art und Weise ermordet, mit den blossen Händen, wie die Polizei bislang vermutet. Die Behörden sind noch ratlos, da der skrupellose Täter keinerlei Spuren hinterlassen hat. Sie bitten um Hinweise von Zeugen die etwas über die Tat wissen.

Ich schlucke schwer. Das klingt nach mir. In meinem Kopf schwirrt es, einerseits bin ich erleichtert, dass ich in meinem gestrigen Blutrausch keine Spuren hinterlassen habe, doch andererseits plagen mich auch irgendwie Schuldgefühle. Ist diese Tat wirklich nur dem Armband zuzuschreiben oder war das einfach meine aufgestaute Mordlust die gestern in diesem Blutbad geendet hat?

Wieder fällt mir nur eine Person ein, die mir Antworten auf die Fragen geben könnte. Ich muss wieder zu Arthur und mehr über das Armband herausfinden, er ist der einzige der mir weiterhelfen kann.

Sie:

Seufzend sacke ich in den Sitz meines Jeeps und schliesse die Türen ab. Ich bin immer noch total verwirrt was Nevil anbelangt, oder überhaupt das Leben. Wie kann das sein, dass solche Wesen unmittelbar unter uns sind und keiner etwas davon mitbekommt? Sind wir denn so blind?

Ich drehe den Schlüssel und lege meine Hände aufs Lenkrad. Gerade will ich losfahren, da überkommt mich ein komisches Gefühl. Ich könnte es nicht beschreiben, doch es ist sehr bedrückend.

Zur Sicherheit sehe ich nach links- nichts, nach rechts- nichts, sehe mich vorne um- nichts dann blicke in den Rückspiegel und mir bleibt die Luft weg. Numa steht hinter meinem Auto und grinst hämisch. Reflexartig trete ich aufs Gaspedal und rase im Rückwertsgang nach hinten. Sie springt zur Seite, ihr Blick wendet sich keine Sekunden von mir ab. Panisch fahre ich vom Parkplatz, immer weiter von der Schule weg.

Was soll ich nur tun? Gehe ich nach Hause, kann es sein, dass sie meiner Familie etwas antut. Gehe ich zu Xavier, wird sie uns beide umbringen. Ob sie Bescheid weiss? Ob sie weiss, dass ich und Xavier zusammen sind? Vielleicht sieht sie es in meinen Gedanken. Vielleicht kann sie erkennen welche unbändige Liebe in mir lodert. In der Hoffnung, dass sie mir nicht folgen wird, fahre ich an einen Ort wo es keine Menschen gibt - zumindest keine lebenden.

666 - Unsterbliche LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt