Kapitel 26 - Kollektive Ratlosigkeit

220 22 1
                                    

Ich werde von einem Klopfen geweckt. Langsam öffne ich die Augen und reibe sie mir mit den Handflächen. Zunächst ist alles noch verschwommen, doch dann erblicke ich wer mich geweckt hat. Nevil steht auf dem Vordach der Veranda und grinst mich an. Ich stehe auf und öffne ihm das Fenster. Ich muss schrecklich aussehen in meinem Entchen-Pyjama und mit meinem zerzausten Haar. ,,Wie geht’s dir? Konntest du den Vorfall von gestern ein bisschen verdauen?“, will er wissen. Ich sehe Nevil mit zusammengekniffenen Augen an. Vorfall von Gestern. Xavier. Mir schwirrt immer noch der Kopf wenn ich daran denke wie leidenschaftlich wir uns geküsst haben. Nevil sieht offenbar, dass ich in Gedanken versunken bin und berührt mich sanft an der Schulter um mich zurückzuholen. ,,Gracie, ich will ja kein Spielverderber sein. Aber findest du es nicht ein wenig komisch, dass er ausgerechnet jetzt wieder auftaucht?“ Er mustert mich mit einem prüfenden Blick, wartet offensichtlich meine Reaktion ab. Ich setzte mich aufs Bett, nun lässt sich auch Nevil neben mich fallen. Was meint er damit, es sei komisch? Nach einigen Minuten und längerem Überlegen muss ich mir eingestehen, dass es doch sehr komisch ist, dass er einfach wieder aufgetaucht ist.
Wie aus dem nichts, stand er plötzlich in unserem Vorgarten. ,,Was willst du mir damit sagen? Denkst du er heckt einen Plan aus?“, frage ich direkt heraus. Nevil fährt sich mit der Hand durch sein blondes Haar und seufzt dann. ,,Ich weiss es nicht. Ich finde den ganzen gestrigen Auftritt ziemlich schräg. Ausserdem war er so, wie soll ich das ausdrücken, nicht er selbst.“ Ich sehe Nevil nun direkt an und ziehe eine Augenbraue hoch. ,,Du kennst ihn doch gar nicht. Woher willst du wissen wie er drauf ist!“, zicke ich ihn an. ,,Es geht hier nicht um den Charakter. Wobei man diesen Aspekt auch nicht ganz ausser Acht lassen sollte. Ich meinte damit eher seine dämonische Aura. Sie war viel stärker als früher. Ausserdem ging von ihm so eine Kälte aus, die ich bis dato noch nie bei ihm wahrgenommen habe. Ich denke wir sind gut beraten, wenn wir einfach noch vorsichtiger sind. Ich traue dieser Sache nicht.“
Ich lasse mir durch den Kopf gehen, was Nevil soeben gesagt hat. Mir steigen die Tränen in die Augen während ich realisiere, dass er absolut Recht damit hat. Rückblickend kann ich jede seiner Aussagen nur bestätigen. Nun, bis auf die dämonische Aura. Die habe ich nicht gespürt, aber dafür die Kälte die von ihm ausging. Vor allem Xavier’s Reaktion als Nevil ihm gesteckt hat, dass die Engel mich nun beschützen, verwundert mich. Xavier sollte es doch bewusst gewesen sein, dass Nevil die Beschützerrolle einnimmt wenn er verschwindet.
Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Hat mich Xavier vielleicht verlassen weil ich ein Halb-Engel bin? Wusste er davon?
Nevil sieht mich erschrocken an, als ich hastig aufstehe und in meinem Ankleidezimmer verschwinde, das ungefähr zwei Quadratmeter gross ist. Als ich angezogen wieder rauskomme meine ich zu Nevil: ,,Denkst du, Xavier wusste, dass ich ein Halb-Engel bin und hat mich deshalb verlassen?“ Wieder fährt sich Nevil durchs Haar. In den letzten Wochen in denen ich viel Zeit mit ihm verbracht habe, ist mir das aufgefallen. Immer wenn er nervös wird, ihm etwas unangenehm oder nicht recht ist fährt er sich mit dieser hastigen Bewegung durchs Haar. So auch jetzt. ,,Diese Frage ist schwer zu beantworten. Ich kann nur Vermutungen anstellen. Xavier ist nicht dumm, aber er lässt sich von seinen Emotionen leiten. Eine völlig untypische Eigenschaft für einen Dämon. Vor allem für einen von seiner Stärke. Was ist damit sagen will ist: Es kann gut sein, dass er es wusste und einfach nicht die Finger von dir lassen konnte. Eben genau aus dem Grund weil er so emotional ist. Ich denke seine Familie hat ihm angeordnet sich von dir zu trennen. Was aber auch nicht sonderlich viel Sinn macht. Denn die Dämonen lassen keine Menschen am Leben. Und erst recht keine Engel. Meiner Meinung nach hätten sie dich schon längst töten sollen.“
Ich blicke ihn mit grossen Augen an. Als er das Entsetzen in meinem Gesicht sieht steht auch er vom Bett auf und lächelt mich nervös an. ,,So meinte ich das nicht. Versteh mich nicht falsch. Ich wollte damit nur sagen, dass es nicht ihn ihr Verhaltensmuster passt, verstehst du? Normalerweise machen sie immer kurzen Prozess. Das ist es auch was mich so besorgt. Ich frage mich worauf sie warten. Da muss ein grösserer Plan dahinter stecken.“
Ich atme tief ein und wieder aus. Das ist alles so schrecklich kompliziert. Ist es denn zu viel verlangt einfach mit der Person zusammen sein zu können die man liebt?
,,Was tun wir jetzt? Ich habe jedenfalls keine Lust hier rumzusitzen und darauf zu warten, dass mich blutrünstige Dämonen töten. Wir müssen ihnen zuvorkommen und einen Weg finden wie ich mit Xavier zusammen sein kann.“
Als ich den letzten Satz ausspreche, glaube ich in Nevil’s Augen einen Anflug von Traurigkeit zu vernehmen.
Er streicht sich nochmals durchs Haar und meint dann: ,,Ich denke wir sollten trainieren. Du musst lernen deine Flügel und deine Kräfte einzusetzen.“ Ich widerspreche ihm nicht und folge Nevil einfach als er aus meinem Zimmer tritt und die Treppe runterläuft.
Ich schaffe es noch mir ein Brötchen in den Mund zu stopfen bevor ich meine Jacke schnappe und rausstürme. Nevil wartet schon in seinem Wagen und ich sehe durch die Frontscheibe wie er ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad rumklopft.
,,Bin ja schon da.“, meine ich kauend während ich mich auf dem Beifahrersitz anschnalle.
Ich will wissen wo wir hinfahren, daraufhin antwortet er: ,,Wir fahren wieder zu dieser Lichtung. Das ist eigentlich ein guter Ort um zu trainieren. Elias kommt auch gleich.“
Ich nicke nur und lasse mich dann in den Sitz gleiten und geniesse die letzten entspannten Minuten bevor mich der Schmerz wieder zerreisst.

666 - Unsterbliche LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt