Türchen Nummer 6: Experiment

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„Also, was gibt's?", fragte Ally, nachdem sie es sich auf meiner Couch bequem gemacht hatte, während ich mich wieder in meinen Sessel gesetzt hatte.
„Ich glaube, der hier ist für dich", redete ich nicht lange drum herum und überreichte ihr den Brief. Verwirrt sah meine beste Freundin mich an. Zögerlich nahm sie den Umschlag entgegen. Während sie die Zeilen las, wurden Allys Augen immer größer.
„Wie süß ist das denn!", rief sie schließlich, als sie am Ende angekommen war.
„Er will dich unbedingt kennenlernen. Du solltest da auf jeden Fall hin gehen", meinte sie.
„Ich denke nicht, dass der Brief für mich bestimmt ist", erinnerte ich sie daran, dass ich der Überzeugung war, dass er für Ally bestimmt war.
„Woher willst du denn wissen, dass ich damit gemeint bin?", fragte sie.
„Du fährst jeden Morgen mit der Bahn", entgegnete ich.
„Als wenn das das ausschlaggebende Kriterium ist. Jeden Morgen fahren Tausende von Menschen mit der Bahn. Außerdem fährst du seit einiger Zeit doch auch jeden Tag damit", erwiderte sie.
„Ich fahre nicht jeden Morgen mit der Bahn. Außerdem mache ich das nur, um mal etwas anderes als meine Wohnung zu sehen und dadurch vielleicht eine neue Idee für eine Geschichte zu bekommen, um meine Schreibblockade zu überwinden", sagte ich.
„Das heißt ja nichts. Vielleicht fährt er auch nicht jeden Morgen mit der Bahn?" Meine beste Freundin warf mir einen dieser Du-weißt-dass-ich-Recht-habe-Blicke zu.
„Trotzdem denke ich, dass du damit gemeint bist."
„Und wer hat den Brief gefunden? Du oder ich?", meinte sie.
„Das war bestimmt nur eine Verwechslung."
„Wie meinst du das?", fragte Ally.

Seufzend lehnte ich mich in meinem Sessel zurück und erzählte ihr von meiner Vermutung, dass der Junge, der uns angerempelt hatte, der anonyme Briefeschreiber war.
„Außerdem ist das überhaupt nicht süß. Das ist eher total gruselig. Er hat dich die ganze Zeit beobachtet", schloss ich schließlich meine Erzählung ab.
„Komm schon, Lizzy. Aktuell bin ich zwar nicht auf der Suche nach einer festen Beziehung, aber diese Aktion ist trotzdem echt süß", erwiderte Ally.
„Wie du meinst."

Ally und ich redeten noch eine Weile über Weihnachtsgeschenke und die neuesten Filme, die gerade herausgekommen waren, aber dann fing sie wieder mit dem Brief-Thema an.
„Weißt du, ich finde, du solltest antworten", meinte sie.
„Was?! Niemals!" Ich verschränkte die Arme.
„Lizzy, ich denke, dieser Junge möchte dich wirklich kennenlernen. Und fang jetzt nicht wieder damit an, dass der Brief für mich bestimmt ist. Er ist in deiner Tasche gewesen. Akzeptier es also, dass es da jemanden gibt, der dich näher kennenlernen möchte. Vielleicht tut dir das mal ganz gut zu sehen, dass es auch noch andere Typen als dieses Arschloch gibt", erwiderte sie.
Ich wollte gerade etwas dazu sagen, als ich stockte. Meine beste Freundin hatte nicht ganz Unrecht. Seit der Sache mit Joshua hatte ich keinen Jungen an mich ran gelassen. Ich war ziemlich abweisend geworden. Trotzdem sah ich es nicht ein, dass gerade jetzt wegen eines Briefes zu ändern. Außerdem war ich noch nicht so weit.

„So weit bin ich noch nicht", sagte ich.
„Irgendwann musst du dich aber wieder mehr öffnen. Es sind nicht alle so wie er. Dieser Idiot hat dich so gebrochen, dass ich immer wieder diesen Drang verspüre zu ihm zu gehen und eine reinzuhauen. Ich weiß, du bist der Meinung das bringt nichts, aber er hat deine Geschichte geklaut und sogar dafür gesorgt, dass du seitdem kein einziges Wort mehr geschrieben hast", meinte sie und ballte schon wieder ihre Hände zu Fäusten.
„Plus eine Schreibblockade", flüsterte ich mehr zu mir als zu Ally, die es dennoch gehört hatte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, stockte dann aber jedoch und schloss ihn wieder. Scheinbar dachte sie nach bis sich schließlich ein breites Lächeln auf ihren Lippen ausbreitete.
„Sieh es doch als Experiment", schlug sie vor.
„Was? Experiment? Wovon redest du?", fragte ich und sah sie verwirrt an.
„Der Antwortbrief. Briefe schreiben ist auch eine Form des Schreibens und wer weiß, vielleicht ergibt sich dadurch sogar eine coole Geschichte, die sich lohnt aufgeschrieben zu werden. Das würde dir bei deiner Schreibblockade bestimmt helfen", erklärte sie mir.
„Nein", lachte ich bitter.

„Lizzy! Ich verstehe, dass du total verunsichert bist, aber irgendwann musst du wieder Schreiben und du solltest diese Chance ergreifen. Was hast du denn zu verlieren?" Meine beste Freundin sah mich entschlossen an.
„Nichts", gab ich kleinlaut zu.
„Eben. Deswegen sage ich, dass du diesem Kerl antworten wirst." Widerrede war zwecklos. Wenn Ally sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann setzte sie das auch durch. Immer wieder fragte ich mich, wie sie das nur schaffte.
„Wenn es unbedingt sein muss. Aber ich gehe nicht zu diesem Treffen. Ich antworte ihm nur", stimmte ich schließlich zu.
„Okay. Das ist ein Kompromiss, mit dem ich leben kann", sagte sie und hielt mir ihren kleinen Finger hin.
Lächelnd hakte ich meinen kleinen Finger bei ihr ein. Damit war es besiegelt. Ein Kleinfingerschwur durfte nicht gebrochen werden.

A Letter for ChristmasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt