Türchen Nummer 19: Abschied

30 7 0
                                    

„Danke, Irma", sagte ich und nahm mit pochendem Herzen den Brief entgegen.
„Gerne doch, Kindchen."
Ich schloss die Tür hinter mir, setzte mich auf mein Bett und öffnete aufgeregt den Umschlag. Meine Hände zogen den Brief heraus und falteten ihn auseinander:

Liebe Geheimnisvolle,

Du glaubst nicht, wie sehr es mich freut, dass du etwas wagst und auch scheinbar die Weihnachtszeit nicht mehr ganz so schrecklich wie am Anfang ist.

Eigene Geschichten schreiben, das klingt sehr spannend. Ich habe dafür leider gar kein Talent. Aber ich bewundere es, wenn man so etwas kann. Ich finde es schade, dass du seit diesem Vorfall kein Wort geschrieben hast. Du solltest dagegen ankämpfen. Lass dir von nichts deine Leidenschaft nehmen. Ich würde einiges dafür geben so etwas zu haben, das du hast. Es gibt zwar einige Dinge, die mir viel Spaß machen, aber nichts davon reicht an das heran, was du hast.

Wie du bestimmt schon vermutest hast, bin ich hier in Cullingfield. Leider muss ich spontaner zurück, als ich geplant hatte. Es tut mir leid, aber daher werden erstmal keine Briefe mehr hier folgen.

Dein Weihnachtself

Ich las den Brief bestimmt noch zwei weitere Male. Er war also wirklich hier in Cullingfield. Doch kaum hatte ich diese Information verarbeitet, bemerkte ich, dass er auch schon wieder abreiste. Sollte ich noch versuchen bei Irma eine Antwort für ihn zu hinterlegen? Würde er sie noch rechtzeitig lesen? Aber was sollte ich darauf schreiben? Bei dem Gedanken an die Abreise meines Weihnachtselfs wurde mir schlecht. Kaum fing ich an mich ihm zu öffnen und diese Brieffreundschaft zu genießen, da war er auch schon wieder weg.  Liam hatte Unrecht behalten. Wieder hatte ich mich wem geöffnet und schon war er wieder verschwunden. Mein Weihnachtself war mir wichtiger geworden, als ich es mir anfangs hatte vorstellen können.

In diesem Moment stockte ich. Hatte ich etwa... Gefühle für diesen Weihnachtself? Heftig schüttelte ich den Kopf. Das konnte nicht sein. Nach Joshua hatte ich niemanden mehr an mich heran gelassen und plötzlich gab es zwei Kerle in meinem Leben, die mir wichtig waren? In die ich mich... verliebte? Stand ich etwa zwischen Liam und dem Weihnachtself? Das durfte doch nicht wahr sein.

Ich vergrub mein Gesicht in meinem Kissen und schrie. Warum konnte in meinem Leben nichts nach Plan verlaufen? Warum musste immer alles so kompliziert sein? Ich war nach Cullingfield gekommen, um Ruhe zu finden und jetzt hatte mich das Chaos sogar hier eingeholt. Ich brauchte dringend jemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Ohne groß nachzudenken holte ich meinen Koffer hervor und fing an meine Sachen hineinzuschmeißen. Ich hatte es satt, dass nichts so lief, wie ich es geplant hatte. Dann fiel mein Blick auf die Uhr und ich stellte fest, dass der letzte Zug für heute soeben den Bahnhof von Cullingfield verlassen hatte. Stöhnend ließ ich mich auf mein Bett fallen. Konnte nicht einmal etwas klappen?! Dann würde ich eben gleich morgen früh den Zug nehmen.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich alles andere als ausgeruht. Ständig war ich aufgewacht, hatte von Briefen und Schlittschuhen geträumt und war einfach nicht zur Ruhe gekommen. Ich machte mich schnell fertig und machte mich dann mit meinem Koffer auf den Weg nach unten.

„Guten Morgen, Kindchen", begrüßte mich Irma. Dann sah sie den Koffer und sah mich verwundert an.
„Möchtest du schon wieder gehen?", fragte sie.
„Guten Morgen, Irma. Ja, leider. Ich war hierher gekommen, um zur Ruhe zu kommen, aber auch hier hat mich das ganze Chaos nicht verschont", versuchte ich mich ihr zu erklären.

Irma sah mich mit festem Blick an.
„Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass du dich dem Chaos lieber stellen solltest? Du kannst nicht immer weg laufen, wenn es schwierig wird. Der einfache Weg ist nicht immer der Richtige, Lizzy", sagte sie ernst.
Damit hatte ich irgendwie nicht gerechnet. Ich hatte auf Zuspruch und Verständnis gehofft. Mit dieser Ansprache überrumpelte Irma mich wie aus dem Nichts.

„Ich laufe doch gar nicht davon", versuchte ich mich aus der Situation zu reden.
Die ältere Dame sah mich mit einem prüfenden Blick an und zog eine Augenbraue hoch.
„Und da bist du dir sicher? Überleg mal, warum du nach Cullingfield gekommen bist und warum du jetzt wieder abreist", erwiderte sie.

Schuldbewusst senkte ich den Blick.
„Kindchen, ich will dir nichts Böses. Du bist so ein lieber Mensch und hast es verdient glücklich zu sein. Aber wegzulaufen, wenn es schwierig wird, wird dir nicht dabei helfen dein Glück zu finden", sagte sie wieder sanft.
„Du hast ja recht", stimmte ich Irma leise zu.
„Aber dafür bin ich im Moment einfach nicht stark genug", meinte ich.
„Das kann ich verstehen. Aber denk bitte darüber nach. Nimm dir die Zeit, um mit dir selbst ins Reine zu kommen. Ich weiß, dass du das schaffst." Sie schenkte mir ein herzerwärmendes Lächeln.
„Danke", sagte ich.

Dann checkte ich aus und machte mich auf den Weg zum Bahnhof.

A Letter for ChristmasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt