Türchen Nummer 16: Schlittschuhlaufen

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Auf dem Weg zum Treffen mit Liam begleitete mich stetig dieses blöde Kribbeln im Bauch. Ich versuchte es loszuwerden, aber es wollte einfach nicht verschwinden. Auch das Lächeln, das sich auf meine Lippen geschlichen hatte, ließ sich nicht mehr abstellen. Was machte dieser Junge mit mir? Ich kannte ihn noch nicht mal richtig. Das war in Filmen und Büchern sonst auch immer so unrealistisch. Nach dem ersten Treffen waren die immer schon total ineinander verliebt ohne sich richtig zu kennen. Und dann wundern sie sich, wenn es plötzlich nicht klappt oder irgendwelche Probleme aufkommen, die es nur gibt, weil man sich noch nicht gut genug kennt. Wenn man vorher lange befreundet war und dann aus Freundschaft Liebe wird, von mir aus. Aber nach dem ersten Treffen sich schon lieben? Niemals. Zwar haben mich diese Filme und Bücher immer irgendwie in ihren Bann gezogen, aber wenn man mal genauer hinsieht, bemerkt man, dass das ziemlich realitätsfern ist.

Daher konnte ich mir auch nicht erklären, was mit mir hier gerade geschah. Als ich den See erreicht, sah ich Liam schon. Sofort bemerkte ich, wie meine Knie weich wurden. Ich ignorierte es so gut es ging und versuchte selbstbewusste weiter zu gehen.
„Hey", begrüßte er mich.
„Hey", erwiderte ich und lächelte etwas verlegen. Es war mir unangenehm welche Reaktionen er allein durch seine Anwesenheit in mir hervorrief. Meine Knie waren noch immer weich, mein Dauerlächeln nicht abzustellen und das Kribbeln in meinem Bauch war noch präsenter als zuvor. Seine grünen Augen blickten direkt in meine blauen und seine braunen Haare lugten unter der Mütze hervor. Dann bemerkte ich, dass er Schlittschuhe über seiner Schulter trug. Ich wurde rot und wandte den Blick ab. Wie wollte ich Schlittschuhlaufen, wenn ich gar keine hatte?! Liam schien zu bemerken, dass etwas nicht stimmte.
„Alles in Ordnung?", fragte er.
„Ja... also nein... Ich meine, ich habe keine Schlittschuhe", erklärte ich.
„Kein Problem. Dahinten kannst du dir welche ausleihen", meinte er und deutete auf ein kleines Zelt mit Tisch, das einige Meter weiter entfernt stand.
„Glück gehabt. Dann hole ich mir mal ein Paar", sagte ich und war schon auf dem Weg zum Zelt.

Mir war noch immer nicht ganz wohl bei dem Gedanken mit Kufen auf dem See zu fahren. Ich würde kläglich scheitern bei dem Versuch darauf zu laufen. Eigentlich konnte man das doch auch nicht Laufen nennen. Man gleitet eher, als das man läuft, da die Füße dauerhaft auf dem Eis sind.
„Guten Tag. Ich würde ein Paar Schlittschuhe in Größe 38 benötigen", sagte ich.
„Gerne. Kleinen Moment", erwiderte der Mann hinter dem Tisch. Er drehte sich um und suchte zwischen den Schlittschuhe das passende Paar heraus. Dann legte er es vor mir auf den Tisch.
„Was bekommen Sie von mir?", fragte ich und war schon dabei mein Portmonee in meiner Tasche zu suchen.
„Lass mal. Geht aufs Haus", grinste er und wandte sich dann an den kleinen Jungen hinter mir.
„Dankeschön", sagte ich und ging zurück zu Liam.

„Wollen wir?", fragte er, als ich bei ihm ankam. Er saß auf einer Bank und hatte seine Schlittschuhe schon angezogen.
„Geh schon mal vor. Ich ziehe nur noch das Paar an und komme dann gleich nach", antwortete ich.
„Alles klar. Wir sehen uns auf dem Eis." Lächelnd stand er auf und betrat das Eis. Ich beobachtete wie Liam mühelos über den zugefrorenen See glitt. Mir blieb der Mund offen stehen. Wie schnell und wendig er unterwegs war. Woher konnte er das so gut? Mein Versuch auf den Dingern zu laufen würde mehr als peinlich werden. Verzweifelt überlegte ich, ob ich irgendwie aus dieser Situation noch heil herauskommen könnte. Doch da müsste ich jetzt wohl durch. Langsam band ich die Schnürsenkel zu und bewegte mich Richtung See. Vorsichtig betrat ich das Eis und wäre am liebsten sofort wieder zurück zur Bank gegangen. Aber ehe ich die Gelegenheit dazu hatte, war Liam auch schon bei mir.

„Soll ich dir helfen?", bot er an.
„Das ist nett, aber ich brauche keine Hiiiil..." Bevor ich den Satz beenden konnte, verlor ich das Gleichgewicht und lag auf dem Eis. Ganz toll gemacht. Großartig. Konnte ich bitte so schnell wie möglich im See versinken?
„Der Anfang ist immer am schwersten", sagte Liam und hielt mir seine Hand hin. Ich ergriff sie und er zog mich wieder hoch.
„Gut... Ich könnte vielleicht doch etwas Hilfe gebrauchen", gab ich kleinlaut zu.
„Kein Problem", meinte Liam. Er nahm meine Hand und lief plötzlich los.
„Nicht so schnell", rief ich.
„Vertrau mir. Dir passiert nichts", sagte Liam und schenkte mir ein Lächeln.
Ich zögerte kurz, doch dann nickte ich.
„Okay", erwiderte ich.
Liam zog mich hinter sich her und glitt sicher über das Eis. Geschickt manövrierte er uns immer wieder zwischen den einzelnen Menschen hindurch. Er war wirklich gut.
„Woher kannst du das so gut?", fragte ich ihn nach einer Weile.
„Ich habe früher jahrelang Eishockey gespielt", antwortete er.
Natürlich. Was auch sonst. Und dann kam ich mit meinen peinlichen Versuchen daher. Ich versuchte nicht mehr daran zu denken und stattdessen einfach die Zeit mit Liam zu genießen.

Je mehr Runden wir liefen, desto mehr Spaß machte es mir. Doch dann sah ich ein Mädchen auf einer der Bänke sitzen, das ein Buch las. Als ich das Cover erkannte, blieb mir der Mund offen stehen. Wie hatte ich denken können, dass Joshua mich hier in Ruhe lassen würde? Er war überall. Ich kämpfte gegen die Tränen an. Dabei verlor ich trotz Liams Hand das Gleichgewicht. Ich ließ seine Hand los und schlug hart auf dem Eis auf. Ich bemerkte noch wie mir die Tränen übers Gesicht liefen und Liam meinen Namen rief.
Dann wurde mir schwarz vor Augen.

A Letter for ChristmasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt