Kapitel 2: Bangen

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Es war nicht schwer gewesen, den seltsamen Jungen aus jener Nacht zu identifizieren. Sie hatte nur hinschauen müssen, als sie am Montag die Schule betrat. Natürlich half es, dass er unauffällig war, wie ein Elefant im Porzellanladen. Und dass sich seine Stimme, melodisch und markant, in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Denn sie hörte ihn, bevor sie ihn sah.

Ohne die dicke Jacke und die Schatten wirkte er noch größer und drahtiger, als sie zuerst gedacht hatte. Alles an ihm schien ein bisschen zu lang zu sein. Von den Beinen bis zu den sehnigen Armen. Lange Finger aber kein Langfinger.

Sie blieb in der Mittagspause in seiner Nähe, um mehr über ihn herauszufinden und sie musste zugeben, dass er weder einen bedrohlichen noch einen sonderlich verrückten Eindruck machte. Ein bisschen seltsam womöglich, aber Kasasagi war niemand, der sich ein Urteil darüber erlauben konnte.

Schließlich war er es, der mit einer Gruppe Jungs zu Mittag aß, während sie alleine in ihrem Essen herumstocherte und ihm Löcher in den Hinterkopf starrte. Sie hatte keine Ahnung, worüber sie sich unterhielten, aber ab und an schwappte das Lachen von ihrem Tisch zu ihr herüber.

Wie er hier sitzen und lachen konnte, während sie das schlimmste Wochenende seit dem Schulwechsel auf die Shiratorizawa durchlebt hatte, lag neben ihr.

Nach und nach nahm sie auch die anderen Jungen am Tisch in Augenschein. Die meisten waren groß und athletisch und der schieren Menge nach, die sie in sich hineinstopfen konnten, handelte es sich eindeutig um Sportler. Nur sie waren in der Lage noch mehr zu essen als normale pubertierende Jungs.

Das nächste Indiz saß mit stoischer Miene direkt gegenüber ihrem mysteriösen Jungen. Selbst Kasasagi, die sich nun wirklich nicht für die Sportmannschaften der Schule interessierte, erkannte ihn als Wakatoshi Ushijima. Schuleigener Superstar wider Willen. Denn obwohl er offensichtlich ein toller Volleyballspieler war, schien er manchmal Schwierigkeiten damit zu haben, im Rampenlicht zu stehen.

Es war noch keinen Monat her, da hatte eine Gruppe Erstklässler versucht, ihm in der Schulbibliothek ein Autogramm abzuschwatzen. Kasasagi hatte ein paar Reihen weiter gesessen und zugesehen, wie er langsam aufgestanden und gegangen war. Um ein Haar hätte sie laut losgelacht, weil die Erstklässler ihm so verloren nachgeblickt hatten.

Sie fragte sich, was für eine Person der Rothaarige sein musste, um mit Ushijima befreundet zu sein. Auf den ersten Blick schienen die beiden ein ungleiches Duo zu sein, aber womöglich täuschte sie sich. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass sie ihn falsch einschätzte.

Nachdem sie den Jungen die ganze Mittagspause über beobachtet und er nicht mal einen Blick in ihre Richtung geworfen hatte, zweifelte sie langsam an ihrem Verstand. Er hatte sie trotz Menschenmenge durch den ganzen Park verfolgt und jetzt wollte er sie nicht einmal bemerken? Oder er ignorierte sie mit voller Absicht, was unfassbar dreist wäre und sie schon wieder auf Hunderachtzig brachte.

Dass er sie nicht erkannt oder sie gar vergessen hatte, zog sie gar nicht erst in Betracht. Trotzdem war die Ungewissheit beinahe genauso schlimm, wie die Vorstellung, dass er sich nicht nach ihr umschauen brauchte, weil er sie schon gefunden hatte. Es würde bedeuten, dass er ihr einen Schritt voraus war und allein dafür könnte sie ihm den Hals umdrehen.

Beinahe hoffte sie, er würde aufstehen und zu ihr herüberschlendern. Die Arme auf den Tisch stützen, sich zu ihr hinunterbeugen und ihr dieses Mal wirklich drohen. Damit wüsste sie umzugehen. Sie würde sich fürchterlich über ihn ärgern, seinen Auftrag widerstrebend erfüllen und nie wieder an ihn denken müssen.

Am Nachmittag, nachdem der Unterricht geendet hatte, setzte sie ihre Recherche bei ihrer Mitbewohnerin fort. Da Kasasagi neben Lernen, Arbeiten und dem ein oder anderen Taschendiebstahl, weder Zeit noch Nerven hatte, sich mit ihren Mitschülern auseinanderzusetzen, war Kamiya so ziemlich die einzige Person, mit der sie sich überhaupt unterhielt.

Baki Baki [Tendou Satori, Haikyuu!]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt