Kapitel 14: Alabaster

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»Als du gesagt hast, dass wir reden müssen, dachte ich, du meinst morgen. Wenn's hell ist. Du weißt schon, wie es normale Leute machen.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, gähnte er.

Unter anderen Umständen hätte sie sich auf die Stichelei eingelassen. Es war ja nicht so, als hätten sie sich bisher besonders oft bei Tageslicht gesehen – mal ganz abgesehen davon, dass der Begriff ‚normal' ganz unten auf der Liste mit Wörtern stand, mit denen sie ihre Treffen beschrieben hätte. Aber heute war ihr nicht nach Scherzen zumute. Sie wusste nicht einmal genau, nach was ihr überhaupt zumute war. Noch etwas Unaussprechlichem womöglich.

Hilflosigkeit kannte sie. Wut und Verzweiflung auch. Aber es hatte sich noch nie so unaufhaltsam angefühlt; wie ein Rausch, der ihren Körper lenkte und sie konnte nur dabei zusehen.

Zu Kamiya hatte sie gesagt, sie würde eine Runde spazieren gehen. Dazu hatte ihre Mitbewohnerin zwar nichts gesagt, aber das war auch nicht nötig gewesen – ihr Blick hatte gereicht. Für einen kurzen Moment hatte Kasasagi überlegt, ihr einfach zu sagen, dass sie sich mit Tendou traf. Nur damit sie nicht mehr so anklagend dreinschaute oder dachte, Kasasagi würde sich für Tendou schämen.

»Du brauchst nicht so zu schauen«, hatte Kasasagi etwas zu ruppig gezischt.

Kamiya hatte sich geräuspert und dann weggeschaut. »Bleibst du wieder die ganze Nacht weg?«, hatte sie dann mit dünner Stimme gefragt.

Da war für einen Moment alles was sich in ihrem Inneren scharfkantig und spitz anfühlte weich geworden: »Nein. Du wirst gar nicht merken, dass ich weg bin.«

Draußen war es dunkel und kalt. Die Sonne war längst untergegangen und hatte den letzten Rest Wärme des Tages mit sich genommen, doch zur Abwechselung begrüßte sie die Kälte einmal. Sie hatte den Eindruck, zu glühen. Als würde die Wut, die ihre Sinne vernebelte, langsam jeden klaren Gedanken verzehren und ein ausgebranntes, dummes Mädchen zurücklassen.

Gefühle machten blind, aber da war so viel gleißender Zorn, dass es ihr egal war. Ihre Fingernägel gruben kleine Kerben in ihre Handballen. Einem Teil von ihr reichte das nicht. Er wollte mit der Faust gegen die Wand hinter Tendou schlagen, bis die Knöchel bluteten, aber der andere Teil wollte die Finger schonen, damit sie sie Iwasaki um den Hals legen und zudrücken konnte, bis er sich nicht mehr wehrte.

»Ich weiß nicht genau, was ich getan habe, aber du siehst aus, als würdest du mir gleich den Kopf abreißen und ich bin nicht sicher, ob ich das zulassen möchte«, erklärte Tendou und musterte sie mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht.

»Ich werde jemandem den Kopf abreißen«, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen, »aber nicht dir.«

»Okay«, sagte er gedehnt. »Ich weiß, ich sollte froh sein, dass ich nicht in der Schusslinie stehe, aber du machst mir ein bisschen Angst.«

»Gut«, sagte sie.

»Gut?«, fragte er. Er starrte sie an, als hätte er ein Gespenst gesehen. »Diese Psychonummer steht dir irgendwie, aber könntest du mir trotzdem bitte erklären, was los ist?«

Und das tat sie.

Als erstes wurde er blass. Eigentlich hätte das in dem schwummrigen Licht kaum auszumachen sein sollen, aber er wirkte wie eine Alabasterstatue. Als wäre er in schimmernden Stein gehauen. Sein Adamsapfel hüpfte, als er schluckte, sonst hätte sie ihn vielleicht wirklich für eingefroren gehalten.

Seine Pupillen zuckten und dann erwiderte er ihren Blick mit verkrampftem Kiefer. Sie war überrascht, dieselbe zügellose Wut in seinen Augen zu finden, die sie selbst empfand. Dabei hatte er das Mädchen nicht einmal gesehen, das Iwasaki gestoßen hatte und das mit blutigen Knien und aufgerissenen Handflächen in ihrem Bett lag und nicht schlafen konnte, weil die Wunden vom Desinfektionsmittel brannten.

Baki Baki [Tendou Satori, Haikyuu!]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt