Kapitel 20: Geständnis

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Die Kälte des Geländers brannte sich binnen weniger Sekunden in ihre Finger. Sie musste sich dazu zwingen, nicht loszulassen. Zum Loslassen war es zu spät. Obwohl die Sonne bereits am Nachmittag untergegangen war, reichte der schwache Lichtschein, der aus den Räumen im Erdgeschoss fiel, um den Boden ausmachen zu können. Kasasagi hatte keine Angst vor der Höhe und die Angst vor dem Fallen kannte sie so gut wie keine andere. Trotzdem konnte sie spüren, wie sie an ihren Nerven zehrte. Wie ihre gierigen Krallen nach ihr zu greifen und sie in den Abgrund zu ziehen drohten.

Im Sommer war es einfach gewesen, vom Fenster auf die Feuertreppe zu klettern, aber jetzt lähmte die Kälte ihre Muskeln und die dicken Winterkleider behinderten ihre Bewegungen. Sie verfluchte sich dafür, sie nicht ausgezogen zu haben. Dann würde sie nicht hier hängen wie ein nasser Sack. Ihre Arme protestierten, als sie fester zog, die Fußspitzen suchten ruhelos nach Halt. Sie wusste, dass es ihn gab, aber die Tatsache, dass die Sohlen ihrer Stiefel immer wieder ins Nichts traten, fraß sich durch ihren Verstand.

»Brauchst du Hilfe?«, erkundigte Tendou sich hinter ihr. Wenn das nicht mit ziemlicher Sicherheit ihren Tod bedeutet hätte, hätte sie ihm nur zu gerne den Mittelfinger gezeigt.

Vielleicht machte es sie dümmer als stolz, aber sie presste zwischen zusammengebissenen Zähnen: »Ich komme klar«, hervor.

»Das sehe ich«, erwiderte Tendou ironisch, unternahm aber keine Anstalten, zu ihrer Rettung zu eilen. Womöglich hatte er Angst, dass sie ansonsten endlich eine ihrer Drohung wahr machen und ihn vom Dach schubsen würde.

Sie schnaubte und endlich, endlich fand ihr Fuß den schmalen Vorsprung, nach dem sie gesucht hatte. Ihr donnernder Herzschlag beruhigte sich ein wenig, als sie ihre Arme endlich entlasten konnte. Während sie nach oben blickte, sog sie tief die kalte Nachtluft ein. Wie hunderttausende kleine Eiszapfen bohrten sie sich in ihre Lunge. Danach dauerte es nur einen Moment, bis auch ihr zweiter Fuß Halt fand. Die Vorsprünge waren winzig, mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen, aber mehr brauchte Kasasagi nicht. Das Klettern lag ihr genauso im Blut wie der Tanz über das Seil.

Jetzt, wo sie einen Arm vom Geländer lösen konnte, ohne abzustürzen, zeigte sie Tendou doch noch den Mittelfinger.

»He!«, beschwerte er sich, »Für was war der jetzt schon wieder?«

Sie musste grinsen.

»Das ist meine Art dir zu zeigen, wie gerne ich dich habe«, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen. Das Adrenalin musste ihre Zunge gelockert haben, denn sobald die Worte ihr über die Lippen gekommen waren, wünschte sie, sie könnte sie zurücknehmen.

Er summte vergnügt. »Wenn du jetzt abstürzt, waren das deine letzten Worte.«

»Ich stürze nicht ab.«

Selbstsicher verlagerte sie das Gewicht und drückte sich mit einem Fuß ab. Der nächste Tritt war ein ganzes Stück weiter oben, aber sie schaffte es, ihn im ersten Anlauf zu treffen. Sie unterdrückte ein Ächzen, als sie sich nach oben hievte. Als sie noch regelmäßig trainiert hatte, wäre diese Kletterpartie keine Herausforderung für sie gewesen. Jetzt allerdings zitterten ihre Arme vor Anstrengung und sie atmete so schwer, dass sie sich sicher war, Tendou könnte es hören. Wenigstens sagte er nichts.

»Aber falls du abstürzt, kannst du das nicht mehr zurücknehmen. Dass du mich magst, meine ich. Willst du nicht auf Nummer sicher gehen?«

Zu früh gefreut.

»Halt die Klappe«, schnaufte sie. Mit letzter Kraft schwang sie die Beine über das Geländer. Sie gestattete sich einen Moment, bevor sie ihre weichen Knie geflissentlich zu ignorieren begann.

Tendou stand im Fensterrahmen, seine Silhouette ein dunkler Schatten vor dem gedämpften Licht ihres Zimmers. Sie konnte ihm die Erleichterung darüber, dass sie nicht abgestürzt und ihr Leben als Trümmer auf dem Asphalt gelassen hatte, trotzdem ansehen.

Baki Baki [Tendou Satori, Haikyuu!]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt