Kapitel 19: Wärme

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Das Lied, mit seinem verstörenden Text und der seltsam eingängigen Melodie, ging Kasasagi nicht mehr aus dem Kopf. Immer wenn sie glaubte, den Ohrwurm abgeschüttelt zu haben, kehrte er nur noch schlimmer zurück.

»Es ist Folter«, erklärte sie Tendou, als sie sich das nächste Mal ungestört zu Gesicht bekamen. Er hatte sie zu einem Spaziergang in der klirrenden Kälte überredet und dann hatte er sie zu noch mehr Dummheiten überredet und deshalb saß sie jetzt angetrunken rittlings auf seinem Schoß und spielte mit seinen Haaren. Es lenkte sie von seinen Augen ab. Und von seinen Lippen. »Ich spiele schon mit dem Gedanken, mir die Trommelfelle rauszustechen.«

»Du bist so gewalttätig«, murmelte er. »Ich kann nicht fassen, dass mir das gefällt.«

Sie schnaubte. War es der Alkohol oder Tendou, der ihr warm werden ließ?

»Du solltest Iwasaki das Lied vorsingen. Dieser Terror währt ein Leben lang«, schlug sie vor und kicherte bei der Vorstellung, wie Tendou um ihn herumtänzelte und für ihn sang. Womöglich lag es daran, dass sie getrunken hatte, aber mit einem Mal schien alles, was Iwasaki betraf so unendlich weit weg, als hätte nicht sie es erlebt, sondern jemand anderes. Sie ließ die weichen Strähnen zwischen ihren Fingern hindurchgleiten.

»Meine engelsgleiche Stimme ist besonderen Leuten vorbehalten.«

»So wie mir?«, hauchte sie und obwohl sie es scherzhaft hatte sagen wollen, kam es ihr wie eine Bitte über die Lippen. Ihre Blicke begegneten sich. Blut rauschte in ihren Ohren und ihr Herz schlug so heftig, dass sie sich sicher war, er konnte es ebenfalls hören. Langsam blinzelte sie. Er hatte wirklich schöne Augen und einen wirklich schönen Mund. Seine Hände glitten unter ihre Jacke.

»Manchmal«, sagte er und sie spürte, wie er die Finger an ihrer Seite bewegte, »möchte ich dir wirklich dumme Sachen sagen, Kasasagi.«

Sie senkte den Kopf und legte ihre kühle Stirn an seine.

»Manchmal möchte ich wirklich dumme Sachen von dir hören, Tendou«, seufzte sie und schloss die Augen.

»Aber nicht jetzt«, stellte er fest. Sie war sich nicht sicher, ob es um ihretwillen oder um seinetwillen war, aber sie wusste, dass er Recht hatte.

»Nicht jetzt«, stimmte sie zu. Nicht, wenn er betrunken war und es nicht so meinte. Und vielleicht nicht einmal, wenn es anders wäre.

Sie saßen gerade so außerhalb des Lichtpegels der nächsten Laterne und Kasasagi war froh um die Dunkelheit. Die Finsternis löste zwar ihre Zunge, versteckte aber zum Glück auch ihre Gefühle. Vielleicht hätte sie nicht trinken sollen.

»Wie wäre es stattdessen mit einem Gedicht?«, fragte er.

»Hast du eins geschrieben?«

»Nein, aber es gibt da so eines über mich, das du mir bisher vorenthalten hast und ich finde, nachdem ich dir letzte Woche meine Gesangskünste dargeboten habe, ist es nur fair, wenn du den Gefallen erwiderst.« Tendou drückte seinen Nasenrücken gegen ihren. Er war viel zu nah, um sich zu konzentrieren und trotzdem wollte sie ihm noch näher sein.

»Deshalb der Alkohol? Um meine Zunge zu lockern?«

»Nein«, sagte er langsam und ernsthaft. »Nicht deshalb.«

»Ich weiß«, sagte sie und streifte seine Lippen mit ihren. Und dann nochmal. »Ich weiß.«

Sie legte ihm die Hände an die Wangen und holte tief Luft. »Es ist nicht nett«, gab sie schließlich zu. Es war ihr damals nur fair erschienen, als sie geglaubt hatte, er wollte sie nur zu seinem persönlichen Vergnügen durch die Hölle schicken. Jetzt kam es ihr vor wie die größte Lüge, die sie je geglaubt hatte.

Baki Baki [Tendou Satori, Haikyuu!]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt