Kapitel 12: Helium

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»Sitzt du wieder irgendwo auf einem Dach und schreibst traurige Gedichte?«, fragte Tendou mit gesenkter Stimme, als sie nach dem dritten Klingeln ranging. Er sprach ruhig und schaffte es trotzdem, belustigt zu klingen, als würde die Vorstellung ihn tatsächlich erheitern. Und zu ihrer Überraschung fand sie die Idee selbst ein bisschen komisch, als würde sie sich ihrer eigenen Melodramatik erst jetzt bewusstwerden.

Das Bild, das sie ihm geschickt hatte – ihre Beine in der Luft, verschwommene schwarze Streifen vor dem blauen Meer des Zirkuszelts weit unter ihr – war mehr Farbtupfen als Foto, aber sie hatte es ihm ohnehin nur als Ausrede geschickt, um mit ihm reden zu können. Obwohl es bereits kurz nach Mitternacht war, war sie hellwach. Und seltsamerweise wollte sie zur Abwechslung einmal nicht allein sein.

Sie legte den Kopf schief, bevor sie seine Frage mit einer Gegenfrage beantwortete: »Glaubst du, ich wäre traurig?«

Der Wind war frisch und ihre Finger froren unter den Handschuhen, aber es war noch nicht so kalt, dass das Atmen brannte und sie genoss diesen Moment als einen der letzten, ehe der Winter ihr die Nacht mit seinen Eisfingern stehlen würde.

»Heute Morgen warst du es nicht«, stellte er fest und sie war froh, dass er nicht sehen konnte, wie sie errötete.

Es kam selten vor, dass etwas sie verlegen machte, aber wenn sie daran dachte, wie sie heute Morgen nebeneinander gelegen hatten und er sie berührt hatte, wurden ihre Ohren heiß. Kaum merklich räusperte sie sich.

»Jetzt ist nicht heute Morgen«, stellte sie fest. Jetzt waren sie hunderte Kilometer voneinander getrennt und es war wieder dunkel, zumindest wenn sie den Kopf in den Nacken legte und den düsteren Nachthimmel betrachtete. Tokyos Straßen waren dagegen in blinkende Neonlichter getaucht – als hätte die Stadt Angst nie wieder aus dem Dunkel aufzutauchen, wenn sie erst einmal darin versank.

»Leider«, stimmte er zu und sein Tonfall ließ einen warmen Schauer über ihre Arme wandern.

Hatte er an sie gedacht, schon bevor sie ihm das Bild gesendet hatte? Der Teil von ihr, der immer auf der Hut zu sein schien, ließ nicht zu, dass sie sich über den Gedanken freute. Sie war für ihn nur ein schlechter Mensch mit hübschem Gesicht. Und vielleicht fand er sie nicht mehr so schrecklich wie am Anfang, aber sie hatte ihm auch keinen echten Grund gegeben, seine Meinung zu revidieren. Es war einfacher, die Erwartungen zu erfüllen, solange er nichts erwartete.

»Aber im Ernst. Ist alles gut bei dir?«, fragte Tendou.

Sie ließ den Blick über das Lichtermeer vor sich schweifen und wippte mit den Füßen. Wäre sie hier oben, wenn alles gut wäre?

Seufzend bejahte sie: »Alles bestens.« Sie lächelte sogar, obwohl er das am anderen Ende der Leitung wohl kaum zu schätzen wusste.

»Du wirst mich doch nach einem Tag noch nicht so sehr vermissen?«

»Du hast mich doch angerufen«, zog sie ihn auf.

»Vielleicht habe ich dich ja vermisst.«

»Hast du?«

»Nein.«

Sie lachte. Es klang sogar in ihren eigenen Ohren fremd. Ihre Beine wippten, als sie den Kopf in den Nacken legte und das Lachen abebbte.

»Willst du mir Stoff für mein nächstes Gedicht liefern?«, zog sie ihn auf.

»Wieso? Macht es dich etwa traurig, nicht von mir vermisst zu werden?«

Sie konnte vor ihrem inneren Auge sehen, wie er die Augenbrauen hob und sie mit diesem intensiven Blick bedachte, mit dem er sie zu durchschauen schien.

Baki Baki [Tendou Satori, Haikyuu!]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt