Kapitel 26: Geist

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»Sie wissen also wirklich nicht, warum er Sie angegriffen hat?«

Als würde sich die Antwort ändern, wenn er die Frage nur oft genug stellte. Kasasagi schnaubte.

»Nein«, sagte sie, dieses Mal ungeduldig.

Vielleicht war es nicht klug, die Polizei zu belügen. Vielleicht hatte sie schon so lange keine kluge Entscheidung mehr getroffen, dass sie sie nicht mehr erkannte, wenn sie ihr ins Gesicht sprang. Vielleicht würde sie die Lüge selbst glauben, wenn sie sie nur oft genug wiederholte.

»Ich denke, er hat mich schon länger verfolgt. Keine Ahnung wieso.«

»Wie kommen Sie darauf? Haben Sie ihn gesehen?«

Sie zögerte, bevor sie den Kopf schüttelte: »Nicht direkt.«

Der Polizist bedeutete ihr mit einer Handgeste, fortzufahren.

»Etwas war nicht richtig«, erklärte sie und erschauderte bei der Erinnerung. Dieser Teil war keine Lüge. Sie erinnerte sich an die Müdigkeit und an die Angst. »Ich hatte das Gefühl, verfolgt zu werden. Manchmal bin ich nachts aufgewacht, weil ich mir sicher war, jemand würde mich beobachten.«

Überhaupt hatte sie kaum geschlafen, in den Tagen, bevor er gekommen war, um sie zu holen.

»Ihre Mitbewohnerin, Kamiya Nasako, hat behauptet, Sie wären die ganze Woche über unruhig und rastlos gewesen. Wenn Sie eine Vorahnung hatten, warum haben Sie nichts unternommen? Wieso haben Sie mit niemandem über ihre Ängste gesprochen?«

Sie wandte den Blick ab. Sie war das Opfer, verdammt nochmal. Tränen traten ihr in die Augen.

»Es kam mir albern vor«, flüsterte sie. »Ich dachte, ich wäre verrückt. Paranoid. Warum sollte jemand mich verfolgen?«

Der Gesichtsausdruck des Beamten wurde weicher. Für einen Moment gestattete sie sich, sich schlecht zu fühlen. Sie log ihn zwar an, aber sein Mitleid hatte sie trotzdem verdient.

»Gab es neben Ihrem unguten Gefühl weitere Anzeichen dafür, dass Sie gestalked wurden?«

Sie befeuchtete sich die trockenen Lippen, ehe sie den Kopf drehte und ihr Deckhaar mit der unversehrten Hand anhob.

»Jemand hat mir eine Strähne abgeschnitten.«

Der Polizist runzelte die Stirn.

»Wann ist Ihnen das aufgefallen?«

»Am Donnerstag. Also zwei Tage, bevor ich angegriffen wurde.«

Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie fragte sich, ob er in ihrem Gesicht lesen konnte, dass sie selbst es gewesen war, die die Strähne abgeschnitten hatte. Selbst ohne EKG konnte sie das rasende Piepen ihres Herzens hören.

Der Polizist zögerte.

»Bei der Durchsuchung seines Zimmers konnte eine Box sichergestellt werden.«

Piep. Piep. Piep.

»Wir würden -sofern das für Sie in Ordnung ist- gerne einen DNA-Abgleich mit dem Inhalt machen.«

Kasasagi musste den entgeisterten Gesichtsausdruck nicht spielen. Von der Angst, die Iwasaki in ihr gesät hatte, konnte sie ein ganzes Leben lang zehren.

Sie brauchte jedoch keinen DNA-Abgleich, um zu wissen, dass es ihre Haare in der Rätselbox waren, die man unter Iwasakis Bett gefunden haben musste. Sie hatte sie schließlich dort hineingetan.

»Sie meinen, er hat meine Haare abgeschnitten und dann in einer... in einer Box gelagert?«

Langsam nickte der Beamte. »Es sieht danach aus. Und es sieht ebenfalls danach aus, als wären Sie nicht die erste, die er verfolgt und womöglich schwer verletzt hat.«

Baki Baki [Tendou Satori, Haikyuu!]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt