Kapitel 18: Melodie

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Tendou sang. Von ihrem Platz in der dritten Reihe aus konnte sie nicht verstehen, was genau er sang, aber er bewegte die Hände im Takt und eine leise Melodie waberte bis in die Ränge hinauf. Ein paar Jungs aus seinem Team sahen ihn an, als hätte er den Verstand verloren und als wäre sein Verhalten gleichzeitig nichts Ungewöhnliches. Vielleicht gewöhnte man sich tatsächlich an seinen Wahnsinn.

Sie sah ihm dabei zu, wie er mit dem Kopf wippte und die Hüften wiegte und schon erwischte sie sich dabei, wie sie grinste. Tendou anzusehen wurde nicht langweilig. Sein Gesicht war ein offenes Buch, jede Regung so deutlich, dass sie seine Gedanken bis in die Tribüne hören konnte. Er blockte mit einer gewissen Arroganz, aber wie könnte er nicht, wenn er so gut war. Tendou war nie unauffällig, dank seiner Größe und den wilden, roten Haaren, aber auf dem Platz schien er regelrecht zu leuchten. Und trotzdem schaute ihn keiner so genau an wie Kasasagi.

Ein paar Mal, wenn er nicht gerade auf dem Spielfeld stand, hatte sie das Gefühl, dass er sie ebenfalls ansah, aber immer, wenn sie in seine Richtung schaute, wirkte er völlig vertieft in das Spiel. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt bemerkt hatte, bis er sie während einer Trinkpause für einen Moment direkt anblickte. Seine Mundwinkel hoben sich für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er ihr ganz unauffällig den Mittelfinger zeigte. Inzwischen war sie sich beinahe sicher, dass das Tendous Version eines Handkusses war.

Grinsend verdrehte sie die Augen. Sie war gut darin, sich einzureden, dass sie ihm unwichtig war, aber in Momenten wie diesen war ihr Herzschlag viel lauter als das leise Stimmchen der Vernunft in ihrem Hinterkopf.

»Ist alles in Ordnung bei dir?«, fragte Kamiya und sah sie fragend von der Seite an.

»Ja, wieso?«

Kamiya zuckte mit den Schultern: »Du bist plötzlich so rot im Gesicht.«

Kasasagi presste die Handflächen gegen ihre Wangen und musste beschämt feststellen, dass Kamiya Recht hatte. Sie glühte. Weil Tendou ihr seinen verdammten Mittelfinger gezeigt und sie sich darüber gefreut hatte. Absolut hoffnungslos.

»Ich fiebere mehr mit, als ich gedacht hatte«, behauptete Kasasagi leichthin und das war nicht einmal eine Lüge.

Sie hatte nicht viel von dem Spiel erwartet – normalerweise liebte sie schöne, filigrane Dinge; Tanzen, Turnen, Wörter und die Aussicht von hoch oben. Volleyball war hitzig, grob und so schnell, dass ihre Augen kaum folgen konnten. Manchmal hätte sie gerne zurückgespult und die Szene noch einmal in Zeitlupe gesehen. Wenn die Jungs so halsbrecherisch dem Ball hinterherhechteten, dass sie den Aufprall am eigenen Körper spüren konnte oder wenn jemand am Netz so blitzartig auf den Gegner reagierte, als könnte er in die Zukunft sehen.

Sie hatte schon tausend Mal die Luft angehalten, während sie Hattori zugesehen hatte. Wenn er so schnell fiel, dass sie wegsehen wollte. Als sich das Spiel dem Ende zuneigte und beide Mannschaften mit einer Verbissenheit um jeden Punkt kämpften, die sie bis an den Rand ihres Plastiksitzes rutschen ließ, hielt sie auch den Atem an. Alle hielten den Atem an. Kamiya neben ihr umklammerte ihre Flasche so heftig, dass das Plastik knackend unter ihren Fingern nachgab.

Nachdem der Ball auf dem Boden aufkam, vergingen zwei Sekunden gespenstischer Stille, ehe der Pfiff ertönte. Kasasagi brauchte noch einmal zwei Sekunden, bis sie verstand, dass die Shiratorizawa verloren hatte. Ihr Kopf schnellte herum und sie ballte die Hände zu Fäusten. Tendou sah beinahe gelöst aus. Der Rest des Teams wirkte ungläubig, geradezu geschockt, als wäre Verlieren nie eine Option gewesen – nur Tendou sah aus, als hätte er sich bereits damit abgefunden. In Kasasagis Brust zog sich alles schmerzhaft zusammen.

»Mist«, raunte Kamiya. »Das war knapp.«

Wenn sich Kasasagi nicht täuschte, war es den Spielern völlig egal, ob es knapp gewesen war. Verloren war verloren. Und wer verlor schon gerne?

Baki Baki [Tendou Satori, Haikyuu!]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt