Kapitel 13: Steine

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Am Mittwoch machte sie sich noch im Morgengrauen auf den Weg zurück nach Sendai. Geschmeidig kletterte sie die Äste des Ahorns hinab und wie immer fanden ihre Hände und Füße ganz von selbst Halt, selbst wenn ihre Augen noch müde waren und der Rucksack auf ihren Schultern schwerer war als bei ihrer Ankunft. Raureif lag auf dem grünen Rasen und als sie ein letztes Mal den Blick zu Ikumis Fenster hob, trudelte ein Ahornblatt aus ihren Haaren, dessen verblüffend rote Farbe sie selbst im Halbdunkeln sofort wieder an Tendou erinnerte.

In den letzten Tagen hatte sie es sehr erfolgreich geschafft, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen und Ikumi, Hattori und ihre Eltern hatten ihr auch sonst wenig Gelegenheit zum Grübeln gegeben. Zum ersten Mal seit Monaten hatte sie ihre alte Trainingsmontur aus dem Stauraum unter der kleinen Couch geholt – und war über das Seil getanzt.

Am Anfang hatte es sich furchtbar komisch angefühlt, jede noch so kleine Regung des Seils unter den dünnen Sohlen ihrer Schläppchen zu spüren. Aber schon einige Minuten später hatte sich ihr Körper wie von selbst in seine Rolle zurückgefunden. Sie war nie so anmutig gewesen wie Hattori und sie hatte auch schon lange nicht mehr so hart trainiert wie ihre Eltern, aber das Seil hatte sie willkommen geheißen wie einen alten Freund.

Zu Kasasagis Überraschung hatten ihr die Tage in Tokyo gefallen. Nach diesem ersten Abend, an dem sie sich mit ihren Eltern ausgesprochen hatte, war sie locker gewesen und war jeden Morgen aus einem traumlosen, erholsamen Schlaf aufgewacht. Es kam ihr vor, wie die Ruhe vor dem Sturm.

In ihrem Leben lief selten alles so, wie sie es sich vorstellte und sie war nicht naiv genug zu glauben, dass sich daran etwas geändert hatte.

Sobald sie zurück in ihrem kleinen Zimmer an der Shiratorizawa war, setzte sie sich an die Schulaufgaben, die ihnen ungnädigerweise über die Ferien aufgebrummt worden waren. Kamiya würde erst am Samstag zurückkommen und weil sie in den letzten Tagen bei Ikumi gewohnt hatte, kam Kasasagi der leere Raum viel zu verlassen und einsam vor. Was besonders seltsam war, weil sie es für gewöhnlich vorzog, allein zu sein.

Die Sonne war bereits untergegangen, als sie mit einem schweren Seufzen die Hefte von sich schob und die Stirn auf die Tischplatte sinken ließ. Der Rücken tat ihr weh und im Laufe der letzten Stunden war ihr Arm bleischwer geworden. Und urplötzlich, als hätte er nur darauf gewartet, dass ihre Defensive in sich zusammenschrumpfte und sie zu schwach war, um sich dagegen zu wehren, dachte sie wieder an Tendou.

Wie heiß sich seine Zunge gegen ihre angefühlt hatte, mit welchem Eifer er sie berührt hatte und wie gerne sie die Geste bei ihm erwidert hätte.

Kasasagi schlug die Hände über dem Kopf zusammen und raufte sich die Haare. Diese Art von Gedanken konnte sie alles andere als gebrauchen, zumal Tendou nicht einmal in der Nähe war und sie keinen davon in die Tat umsetzten konnte. Abrupt schob sie den Stuhl zurück und stand auf – vielleicht würde ein Spaziergang in der kalten Abendluft sie wieder zur Vernunft bringen.

Doch der Spaziergang brachte keine Ruhe in ihre Gedanken, sondern nur die Erkenntnis, dass alles, was Tendou betraf, völlig außerhalb ihrer Kontrolle lag und diese dumme, dumme Seite an ihr, die den Nervenkitzel liebte, hatte nicht das geringste dagegen einzuwenden.

⨳⨳⨳

Über das Wochenende trudelte nach und nach die Schülerschaft wieder im Wohnheim ein. Als Kasasagi am Samstagmittag von der Arbeit zurückkam, lag Kamiya bäuchlings auf ihrem Bett und blätterte träge in einer Zeitschrift – vermutlich las sie gerade die Horoskope.

»Für die Löwendame liegt Liebe in der Luft«, erklärte sie und sah Kasasagi dabei an, als wüsste sie mehr als sie sollte.

Kasasagi zuckte mit den Schultern und schnupperte: »Ich rieche nichts.«

Baki Baki [Tendou Satori, Haikyuu!]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt