Kapitel 21: Tränen

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»Lass dich nicht erwischen.«

Sie hatte schon die Hand um die Türklinke geschlossen, als seine leisen Worte sie erreichten. Einen Moment lang verharrte sie, ehe sie kehrt machte und schnellen Schrittes zu ihm zurücklief. Ihre Finger waren schon wieder kalt geworden, aber Tendou zuckte nicht zusammen, als sie sie an seine Wangen legte. Sie sah zu ihm auf. Seine Augen wirkten genauso dunkel wie die Nacht.

»Du dich auch nicht«, murmelte sie, ehe sie sich auf Zehenspitzen stellte und mit ihren Lippen flüchtig seine streifte. Danach drehte sie sich nicht noch einmal um und verschwand durch die Tür im Treppenhaus. Sonst war es ihr immer egal gewesen, dass die Tür nur von außen ohne Schlüssel zu öffnen war, aber heute war sie froh darum. Es bedeutete, dass niemand außer dem Hausmeister einfach nach oben gehen und Tendou entdecken konnte, während er alles in Position brachte.

Im Wohnheim war es still. Nur das Rauschen ihres eigenen Blutes war zu hören. Nachdem das Klicken des zufallenden Schlosses verhallt war, wartete sie einige Sekunden, bevor sie sich in Bewegung setzte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich in das Stockwerk der Mädchen und bis in ihr eigenes Zimmer vorgearbeitet hatte. Der Wind hatte das Fenster wieder aufgedrückt und im Zimmer war es inzwischen genauso frostig wie draußen. Sie löschte das Licht und wartete, bis sich ihre Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bevor sie zum Fenster lief. Sie hatte es bereits zugedrückt, als sie es sich noch einmal anders überlegte. Stattdessen schnappte sie sich den Gürtel von Kamiyas Bademantel und band ihn so um Fenstergriff und Bettpfosten, dass es nicht mehr zufallen konnte.

Dann entledigte sie sich ihrer Wintersachen, bis sie nur noch Schlafanzug und Socken trug. Sie wackelte mit den kalten Zehen. Als nächstes streifte sie sich Handschuhe über. Sie bezweifelte, dass Iwasaki tatsächlich nach Fingerabdrücken suchen würde, aber Tendou hatte darauf bestanden. Für einen Moment schloss sie die Augen, um sich für alles zu wappnen, was in dieser Nacht noch auf sie zukommen mochte.

Dann erst holte sie die Tüte unter Kamiyas Bett hervor. Das Plastik knisterte unter ihren Fingern, als sie die Kitsune-Maske hervorholte. Sie war identisch zu der, die sie in der Nacht getragen hatte, als sie Iwasaki mit einem Messer bedroht hatte. Selbst wenn er in dieser Nacht keine freie Sicht auf die Maske gehabt hatte, würde er sie erkennen. Genau wie ihre Stimme.

Als sie das zweite Mal in die Tüte griff und über das kalte Metall der Rätselbox strich, kribbelten ihre Finger. Unruhe machte sich in ihr breit. Sie versuchte das Gefühl abzuschütteln, aber es setzte sich in ihren Gliedern fest und sie musste sich zwingen, die Box hervorzuholen. Sie biss die Zähne zusammen, als sie sich die Kiste unter den Arm klemmte und sich eines der hervorstehenden Metallteile in einen Nerv bohrte. Der Schmerz hatte eine erdende Wirkung auf sie.

Mit einer Hand schrieb sie Tendou eine kurze Nachricht, dass sie sich in fünf Minuten in Position befinden würde. Sie schob das Telefon unter ihre Bettdecke, bevor sie das Zimmer verließ.

Auf Socken fiel es ihr wesentlich leichter, zu schleichen. Sie brauchte keine fünf Minuten, um den Flur der Jungs zu erreichen und sich in eine Abstellkammer zurückzuziehen. Umgeben von Putzutensilien wartete sie.

In völliger Schwärze und ohne sich zu rühren, war es schwer, auf irgendetwas anderes als den eigenen Herzschlag zu achten. Ob Tendou schon begonnen hatte? Sie stellte sich vor, wie er die Schnur, an der sie einen kleinen Lautsprecher und eine weitere Maske befestigt hatten, den letzten halben Meter absenkte. Dann musste er nur noch auf Play drücken, und sein Lied mit ihrer Stimme würde Iwasaki aus dem Schlaf reißen.

Sie stellte sich gerade sein zu einer Fratze verzerrtes Gesicht vor, als er merkte, dass er zum Narren gehalten wurde, als sie Schritte hörte. Schnelle, wütende Schritte. Sie hielt den Atem an, während sie auf sie zukamen und auch noch, als er bereits an ihr vorbei war. Ohne weiter Zeit zu verlieren, schob sie die Tür auf. Sie wagte keinen Blick über die Schulter, als sie auf die offenstehende Tür zu Iwasakis Zimmer zulief. So leise, dass es genauso gut der Wind hätte sein können, waberte ihre eigene Stimme durch den Gang.

Baki Baki [Tendou Satori, Haikyuu!]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt