7. Mittwoch (3)

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Als mein Adrenalinspiegel ziemlich plötzlich zu sinken beginnt, werde ich von einer solchen Scham gepackt, dass ich mich hektisch nach hinten werfe und von Jarry wegkrabble.
Doch statt mit dem Rücken gegen die Wand zu prallen, setzte ich mich auf die Füße einer Person. Ich fahre zusammen und verrenke mir den Hals, um zu sehen wer es ist.
Isa beugt sich lächelnd herab, streichelt mir über die Haare und sagt: „Schon gut, Kleines, du hast alles richtig gemacht." Das Rauchige in ihrer Stimme führt nicht dazu, dass ich mich beruhige. Ich kann ihr Gesicht in der Dunkelheit kaum erkennen, sie könnte genauso gut eine hundert Jahre alte, halb verrottete Frau sein, die mir jeden Moment ihre brüchigen, Pilz verseuchten Fingernägel in die Kopfhaut rammt.

„Raus hier, alle!"
Noch immer schaudernd reiße ich den Kopf wieder zu Jarry herum. Seine Stimme erinnert mich an einen spröden Stein. Jede noch so winzige Erschütterung würde ihn vollends zerbröseln lassen und die nächste Windböe den verbliebenen Staub in alle Richtungen verwehen.

Ich muss mir für das nächste Mal merken, die anderen gleich weg zu jagen, um ihm das Sprechen zu ersparen.
Gott verdammt, ich will nicht wahrhaben, dass er noch mehr von diesen Anfällen wird erleiden müssen. Ich weiß nicht, wie ich ihn weiterhin dabei stützen soll, wenn mich der Gedanke daran allein schon an den Rand des für mich ertragbaren bringt.
Mein Inneres verzwirbelt sich zu einem ausgefransten Stück Seil, als ich beobachte, wie er sich damit abmüht den Kopf so weit zu heben, dass er geradeaus sehen kann.

Schnell krabble ich auf allen Vieren wieder auf ihn zu.
„Ist es schlimmer als letztes Mal?", wispere ich, in der Angst, meine Stimme könne das kritisch Maß an Erschütterung liefern. Dabei ist die Frage gänzlich unnötig.
Aber warum? Ist es immer unterschiedlich stark? Warum habe ich bloß nicht gefragt!?
Zögernd strecke ich eine Hand aus und lege sie auf seine Schulter, in der Hoffnung irgendeine Reaktion zu bekommen. Doch sie bleibt aus.

Mit einem harten Schlucken bemüht, die aufkommende Panik wieder hinunter  zu kämpfen, rutsche ich auf den Knien an seine Seite.
Er kann in dieser zusammengestauchten Haltung unmöglich atmen.
Den einen Arm unter seinen Bauch geschoben, die Hand des anderen seinen Oberarm möglichst behutsam im Griff, zeihe ich ihn zurück und rutsche nach hinten, bis er halbwegs ausgestreckt und an mich gelehnt sitzt.

Als sein Kopf dann, als würde er von nichts mehr gehalten, von meiner Schulter hinunter rollt, setzt mein Herz aus.
Für eine Sekunde denke ich, ich würde eine Leiche halten, doch dann dringt das Keuchen zu mir durch, von dem jeder seiner schweren Atemzüge begleitet wird.
Verzweifelt schlinge ich meinen linken Arm um seinen Brustkorb und beeile mich seinen Kopf mit der rechten Hand auf meiner Schulter zu halten.

Ich konzentriere mich auf seinen Körper in meinen Armen, dessen Wärme und Gewicht, sein Gesicht, das ich fest an meinen Hals drücke, da es mir hilft, den Gedanken, ich könne ihn unmöglich so einfach verlieren während er so überdeutlich bei mir ist, wahr scheinen zu lassen.
Doch das Wissen um die Realität drängt sich von Sekunde zu Sekund mehr auf.
Es lässt das Gefühl von Hilflosigkeit und der zerreißenden Angst den einzigen Menschen, der mir etwas bedeutet unter meinen Händen dahinsiechen zu sehen, mit erdrückender Übermacht aufkommen.
Der Druck ist so präsent, dass er mich bald auch physisch in Form von Atemnot einholt.

Ich drehe den Kopf weg, starre zu einem der winzigen, düsteren Fensteröffnungen hinauf und versuche mir so einen kleinen Raum zu geben, in dem ich wieder fähig bin zu Atmen. Es gelingt mir tatsächlich, jedenfalls für einen Moment.
Dann reiße ich den Blick wieder, von der plötzlichen, alles andere explosionsartig in den Hintergrund drängenden Angst gepackt, etwas furchtbar Wichtiges verpassen zu können, herunter.

Doch Jarry liegt weiterhin nur, vermutlich nicht mal mehr bei Bewusstsein und inzwischen kaum noch merkbar atmend da.
In Ermangelung anderer Ideen und dem verzweifelten Verlangen danach endlich etwas zu tun, drehe ich mich etwas, um meine Lippen näher an sein Ohr zu bringen.
Den Schmerz ignorierend, den die neue Position in meiner, vom Gewicht zweier Menschen an die harte, kantige Wand gedrückten Schulter entsteht, beginne ich das erst beste Lied zu summen, das mir in den in den Sinn kommt.
Da ich „What's-her-face" aber nur dreimal gehört habe und die Töne entweder von der Panik, die meinen Hals zuschnürt, erdrückt werden und ersterben, oder völlig falsch sind, wäre niemand in der Lage es zu erkennen.
Trotzdem fühlen sich die wenigen Minuten an wie verzaubert. Ich nehme nur so wenig war, doch dass, was da ist, nimmt mich vollständig ein. Als wären meine Sinne von einem dieser Rädchen, die es an manchen Taschenlampen gibt, um ihren Lichtkegel zu verstellen, auf wenige Punkte konzentriert worden, die allerdings wirken unglaublich intensiv auf mich. Diesen Moment werde ich niemals vergessen.

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