6. Dienstag (7)

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Ein paar Minuten lang sitze ich regungslos da. Ich bin so weit  weg, losgelöst, von dem gewaltigen, undurchdringlichen Vorhang der       Verleugnung, den mein Hirn zum Selbstschutz über die kürzlich geschehenen Ereignisse gehängt hat.

Dann beginne ich mich im Auto umzusehen. Das Handschuhfach ist nicht ganz zu.

Ich drücke dagegen. Doch es tut das Gegenteil von dem, was ich wollte und springt auf. Ein Haufen CDs kommt mir mit so viel Schwung    entgegen, dass  manche bis auf meinen Schoß katapultiert werden. Ganz oben liegt „Ultra" von Depeche Mode.

Ich hebe sie sachte mit den Fingerspitzen auf. Darunter befindet sich „Some great Reward" von derselben Gruppe.
Ich lege erstere auf die Mittelkonsole, da ich das Cover ansprechender finde, und stopfe den Rest wieder ins Handschuhfach. Ob die Lieder   auf diesem Album genauso schön und mitreißend sind wie „What's-her-face"? Ich klappe die schon ziemlich verkratzte Hülle auf    und angle die CD heraus, möglichst ohne Fingerabdrücke auf der Lauffläche zu    hinterlassen.
Dann schiebe ich sie vorsichtig in das CD-Laufwerk. Vom ersten Lied bekomme ich überhaupt nichts mit, und erst nach guten    fünf Minuten wird mir klar, dass die Lautstärke auf Minimum stand. Emotionslos drehe ich am Lautstärkeregler,

Ein    Stampfen und    Klopfen ertönt, begleitet von seltsamem, Kosmischem    Rauschen. Dann setzt    die Melodie, gespielt von einem Keyboard, ein.    Zuletzt kommt die    Stimme. Unglaublich klar, im Fokus stehend und  alle   Aufmerksamkeit    zunächst auf sich ziehend. Doch sie ist auch  kühl  und  wie von etwas    bedeckt, das alles von ihr abperlen lässt.   Unnahbar,  trotz des leichten,    zwischen Sehnsucht und resignierter   Langeweile  schwankenden  Untertons.   Der Text gefällt mir. Er handelt   von der  Liebe, doch in  einer anderen   Richtung als es in den Liedern   der Fall  ist, die im  Radio laufen. Es   geht um die Nachteile und   Tücken, die  sie mit sich  bringt und darum,   dass doch niemand eine   Chance gegen  sie hat.  Gemeinsam mit der Art der   Vortragsweise, jede   Zeile hat die  beinahe  gleiche Betonung, wirkt es   ergeben. Als hätte   das  Lyrische-Ich sich  mit den aufgezählten Dilemmas   abgefunden.  Ihm   bleibt schließlich auch  keine Wahl.

Die Zeit   vergeht  erst,   ohne dass ich viel davon  merke. Doch dann klärt sich der    Nebel um   meinen derzeitigen  Standpunkt, sowohl in meinem Innern wie    auch, was   die Umgebung und  bevorstehende Ereignisse angeht, langsam.      Vereinzelte Gedanken tauchen  aus dem Sirup auf, der sich am Boden    meines   Geistes gesammelt hat.

Ich recke den Hals in der Hoffnung einen der drei im Geschäft zu finden. Keine Chance.

Jarry       hat sich einen absurd weit vom Geschäft entfernt liegenden   Parkplatz     ausgesucht. Das dritte Lied hat soeben, erneut mit einem   Stampfen  und    seltsamen Geräuschen im Hintergrund, angefangen, da   treten sie  ganz    plötzlich aus dem Licht hinter den Schiebetüren.   Meine  Mundwinkel    zucken, es ist ein komischer Effekt.
Als sie   das Auto,  beladen mit    in Plastik geschweißten Wasserflaschen und   ebenfalls in  Plastik    vakuumierten, Bratwürstchen und einem   Einkaufswagen, zur  Hälfte gefüllt    mir Konservendosen, erreichen, ist   grade der erste  Satz des Textes,    getragen von einer, starken   Tonlagenschwankungen  unterworfenen, Melodie,    gesungen worden.

Ich   höre ihre Stimmen  gedämpft durch die    Autotüren und wenig später   ganz deutlich, als,  wie ich im Rückspiegel    sehe, Thomas den   Kofferraum aufreißt.

„Nein,  das werde wi...", er    verstummt   mitten im Satz und starrt, wenn ich  raten müsste, das Radio    an, „wir   werden nicht verhungern." Seine  Stimme hat im zweiten Teil  des     Satzes ihr Lachen und jede Betonung  verloren, klingt unterkühlt  und    ist  leiser.
Ich stecke noch zu tief in dem Sirup, um schnell eine Antwort auf die Frage nach dem Warum zu finden.

MysterieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt