7. Mittwoch (8)

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Endlich kann ich wieder klar sehen.
Mit entsetzt aufgerissenen Augen starre ich in sein Gesicht. Ich habe gar keine andere Wahl, als mich dem, was auch immer mich dort erwartet, zu stellen.

Er hat den Mund geöffnet, die farblosen, rissigen Lippen spannen sich, dem Zerren der übrigen Muskeln erlegen, über seine Zähne.
Der anklagende Ausdruck in seinen jagt Tränen in meine Augen.
Doch warum nur? Was verletzt ihn so sehr?

„Ihr habt mich belogen. Alle! Wie konntet ihr nur..." Es klingt, als würde er laut denken, jedenfalls sind die Worte nicht an mich gerichtet.

So fest sich die Gefühle, die ich aus seinem Ausdruck, seinen Worten und seiner Stimme interpretiere, die sich auf mich übertragen, auch mit Nägeln gespickten Verschlägen um mein Herz legen, ich kann sie nicht verstehen.

Ich empfinde genau wie er, sehe wie sehr unsere Unehrlichkeit ihm zusetzt, das Wissen darum, dass ich Mitschuld trage bringt die stählernen Verschläge zum Glühen, ich vergehe in Verzweiflung.

Dennoch.
Der winzige Teil, der sich nicht anstecken lässt, hebt irritiert die Hände.

Ist ratlos aufgrund der seiner Ansicht nach maßlos übertriebenen Reaktion auf ein paar Lügen, über deren Hintergrund Jarry doch gar nichts weiß.

Wie soll mein niedliches Überbleibsel das nur mit seiner Eigenschaft, andere nicht zu verurteilen, schon gar nicht vorschnell, in Einklang bringen? Diese Eigenschaft ist der einzige Grund, aus dem Jarry mich nicht verstoßen hat, mich nicht mit jeder Zelle seines Körpers und des gesamten Ausmaßes seiner verwundenen, vielschichtigen Persönlichkeit hasst.

Seine Lippen schließen sich, damit nicht genug, er presst sie so fest aufeinander, dass sie zittern.

Ich kippe meinen Kopf auf die Seite.
Das Unverständnis, mehr Neugier als Feinseligkeit auslösend, drängt meinen Schmerz in den Hintergrund.

„Ich verstehe nicht. Überall sind Lügen. Jeder Mensch sät täglich neue. Das ist nicht gut, darüber brauchen wir nicht zu streiten. Aber warum lässt du dich davon mitnehmen? Sogar schon bevor du Hintergründe kennst?", frage ich, beinahe selbstzufrieden über die Sanftheit meiner Stimme.

Die Fassungslosigkeit versagt ihm jede Antwort.

Kopfschüttelnd rappelt er sich auf und geht rückwärts, macht dabei den Anschein, jede Sekunde zu fallen.

Ich springe auf und gehe auf ihn zu.

Zwar hat ein mit plötzlich aufflammender Sorge, ausgelöst durch seine Verletzlichkeit, geschmiedeter Hammer begonnen, die Streben mit gezielten Schlägen noch enger um mein Herz zu schließen, doch ich weiß, alles, was mir bleibt, ist die Flucht nach vorn.

Jarry stolpert weiter rückwärts, sein Kopfschütteln wird heftiger.
An einem Punkt habe ich ihn so weit zurückgetrieben, dass er mit dem Rücken gegen die Hüttenwand stößt und immerhin nicht mehr Gefahr läuft zu stürzen.

Angst flackert in seinen sich nun weitenden Augen auf.

„He, Viki, Jarry, wir wollen weiter, packt eure Sachen und kommt zur Brücke!"

Matts Stimme reißt mich abrupt aus dem Fokus.

„Geh weg, geh zu ihnen!", die Entschlossenheit, die er beabsichtigt hatte in die Worte zu legen, bröselt mit jeder Silbe weiter ab.

Ich kneife die Augen zu und drehe mich um.

Ich muss das hier beenden, es wird immer schlimmer, ich stecke schon bis zum Hals in einem Sumpf aus verworrenen Konflikten, die niemand nur im Ansatz zu verstehen vermag.

MysterieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt