8. Donnerstag (3)

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Oh.
Ich senke den Blick und starre einen Strich. Mein Herz beginnt voll Unruhe zu rasen.
Dann habe ich das gerade falsch verstanden.
Aber mal im Ernst, wer schläft schon auf dem Rücken? Ganz sicher ein verschwindend geringer Teil der Menschheit.
Ahh, nein! Nicht schon wieder ablenken!

Scheiße. Was mache ich jetzt? Vor einer Woche hätte ich nicht in einem Raum mit einer anderen Person geschlafen, die mir praktisch fremd ist.

Gestern lag ich unmittelbar neben gleich drei Leuten.

Das zählt aber nicht.
Ich war so müde und das Wachsein leid, ich wäre an einem Hubschrauber hängend eingeschlafen.

Jetzt bin ich viel zu aufgekratzt, um auch nur ans Schlafen zu denken!
Unsicher verschränke ich die Arme vor der Brust. Fuck! Was soll ich tun?
Mein Kopf will nicht arbeiten, kein Gedanke hält es für nötig, seine Durchfahrt zu verlangsamen, um sich für mich entzifferbar zu machen. Diese Raserei macht mich außerdem ganz wuschig!
Was spricht dafür, was spricht dagegen?

Nein. Falsche Herangehensweise. Ich sollte auf mein Bauchgefühl hören.
Mir ist schlecht.
Wegen des Gedankens, bei Jarry zu schlafen oder wegen der Aufregung?
Bah, ich könnt schreien, was soll das?! 

Eine Bewegung im Bett reißt meine Aufmerksamkeit an sich und alle Ampeln in meinem Kopf springen auf Rot. Kein Gedanke kommt mehr vorbei gerauscht.
Jarry räkelt sich etwas, sichtlich begeistert von seinem endlich zurückgekehrten Wohlsein.
Seltsam verrenkt hält er dann inne, um die Arme nach beiden Seiten auszustrecken und mich aus großen, fragenden Augen anzusehen.
„Ich kann dir meinen Wunsch mitteilen, wenn dir das hilft." Ich nicke einfach.
Alles, um die Zeit zu verlängern, in der ich ihn so sehen kann. Entspannt, zufrieden, sicher.
Gänzlich geöffnet, bloß, schutzlos, voller Vertrauen. Vertrauen in dich.
Einem kranken, widerlichen Stück Sche...

„Mir ist kalt.
Außerdem wäre es sicher nicht schlecht für dich zu sehen, dass dir meine Nähe nicht weh tut. Wenn du in ein paar Stunden wieder aufwachst und mich ganz harmlos und still neben dir liegend findest, wird die Zeit, die du brauchst, um mir zu vertrauen, hoffentlich verkürzt.
Denn das ist mein Wunsch. Dir jemanden zu schenken, in dessen Nähe du dich sicher fühlst, der dich halten kann, wenn es nötig ist, auf den du immer zählen darfst. Ich will für dich sein, was immer du brauchst. Möchtest.
Das lehrt dich gleichzeitig den Umgang mit einer Person, die dir am Herzen liegt, und irgendwann kannst du dieses Geschenk jemand anderem geben, wenn du das möchtest."

Ja natürlich. Ich habe nicht eine Sekunde lang an etwas anderes gedacht...
Und mich dafür verabscheut.
Wie kann ich nur allein an die Möglichkeit denken. Ausgerechnet ihn...
Ich bin so krank, falsch, abartig.
Ich wiederhole mich.
So eine verfickte Scheiße, das macht mir doch alles nur Probleme! Ich will zurück, zurück in mein altes, langweiliges Leben. Da wurde mein Selbsthass immerhin von der Aggression, die die ignoranten drecks Ärsche um mich herum in mir ausgelösten, übertüncht!

Der nur für das stumpfe Funktionieren zuständige Teil meines Hirns gibt meinen Beinen den Befehl, wieder auf das Bett zuzugehen. Mich auf der Kante abzusetzen.
Ich lasse mich auf den Rücken sinken, mit einer so kleinen und unsichtbaren Bewegung -ich kann tun, als hätte ich sie gar nicht gemacht. Als hätte ich mich nicht gerade freiwillig neben ihn gelegt.
Aus stumpfen, blinden Augen starre ich an die Decke.
Wehre alles, das die Tore meines Kopfes sprengen will, mit sturer Ignoranz ab. Ist nicht so, als könnte ich das nicht auch.

„Möchtest du dich nicht zudecken?" Und dahin ist sie.
Die sanft geflüsterten Worte stehen plötzlich mitten in mir und die Mauern zu verteidigen ist sinnlos, wenn der Feind bereits im Zentrum steht. Ein Feind?
Mechanisch richte ich mich wieder auf und schlage die Decke zurück, was Jarry kurz vor Kälte erzittern lässt. Das alte Gemäuer ist natürlich nicht isoliert.
Seltsamerweise spüre ich keine Kälte. Seit wir durch das Tor getreten sind nicht mehr.

Die Gewichtsverteilung neben mir ändert sich, es raschelt, und dann spüre ich einen Hauch kühler Luft an meiner Wange. Kühl.
Wäre er warm hieße das, Jarrys Gesicht würde sich nur wenige Zentimeter entfernt, neben meinem befinden.

Dennoch fühle ich die Präsenz seines ganzen Seins dicht neben mir, obwohl er mich nicht berührt. Es ist gruselig.
Ich meine seine Konturen wie ein magnetisches Feld neben mir zu spüren.
Zieht es mich an oder stößt es mich ab?
Sicher kann ich sagen, dass es mich in Unruhe versetzt. Mich aufwühlt.
Ich schließe meine Augen und atme langsam aus.
Es ist in Ordnung. Niemandem passiert etwas. Es droht keinerlei Gefahr.

Nach einiger Zeit fängt mein Körper an, überall zu schmerzen.
Völlig verkrampft und den Kopf in einer für meinen Nacken unmöglichen Weise haltend liege ich seit gefühlten Stunden da.
Ganz manchmal höre ich Jarry am äußersten Rand meiner Wahrnehmungsfähigkeit atmen. Er schläft schon seit längerem.

Millimeter für Millimeter drehe ich meinen Kopf in seine Richtung.
Dank der noch immer leuchtenden Handytaschenlampe kann ich ziemlich viel, wenn auch nur in leblosen Grautönen, sehen.
Kaum haben meine Augen sich auf die Entfernung eingestellt und erlauben mir, sein Gesicht gestochen scharf und im Detail zu erkennen, fällt jede Anspannung von mir ab.
Es ist wirklich in Ordnung. Ich weiß jetzt, dass ich keine Gefahr für ihn darstelle.

Nicht einmal mein garstiger Dämon würde es wagen, einem so schönen, in meinen Augen absolut perfektem Geschöpf etwas Böses zu tun. Die wenigen Handlungen, die Jarry in Bezug auf mich bisher unternommen hat, sind in ihrer Hingabe und ihrer unerschöpflichen Überzeugung, an mir festhalten zu müssen, mit nichts vergleichbar.
Jede Sekunde, die ich mit ihm verbringe, zwingt mich fester daran zu glauben, dass er ein Wunder ist.
Kein Mensch würde nach Jahren, in denen er ohne Unterbrechungen leidet, sowohl körperlich als auch, als natürliche Langezeitfolge dessen, psychisch, an seinem Leben festhalten, nicht wahr?
Erst recht nicht, wenn er immer auf die Verliererseite gestellt wird, zusammen mit unwürdigen Kreaturen wie Thomas und mir, die ihr Leben verwirkt haben.
Mit weiteren Problemen, die ihm angehängt wurden, von denen die aller wenigsten Menschen auch nur den Hauch einer Vorstellung haben.
Nach all dem nicht aufzugeben, gar noch für jemand anderen zu kämpfen. Für mich!
Was für ein Mensch würde das tun?
Dabei fühle ich mich im Recht zu sagen, dass dieses Verhalten nicht von Naivität herrührt. Die kleinen Einblicke, die ich in seine Persönlichkeit haben durfte zeigen mir, dass sie ungeheuer komplex und vielschichtig ist. Wie könnte sie nicht, nach dieser Geschichte?
Ja... ungeheuerlich...

Das belebende, heiße, tiefgreifende Gefühl, das mich plötzlich befällt, treibt mir Tränen in die Augen. Es durchdringt mich bis hinab zu meinem Kern, taucht ihn in gleißend helle Flammen. Kein einzelner Lichtstrahl mehr, ein blendend weiß strahlendes Inferno.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, um ein Wimmern aufzuhalten, das angesichts der Übermacht und meiner kontrastierend gegenüberstehenden, absoluten Machtlosigkeit nach außen drängt.
Doch meine völlig natürlich aufgetretene Angst ist kaum nennenswert.
Bereitwillig lasse ich mich in die Glut hinein sinken, tiefer und tiefer, bis sie mich gänzlich umschließt.
Bis da nur noch dieses Gefühl ist, ausgelöst durch den Menschen, der nur wenige Zentimeter von mir entfernt liegt und friedlich schläft.

Mein Herz jagt Lebensfreude und Glück durch meinen Körper, übermütig, jetzt wo es endlich frei ist, endlich froh sein darf.
„Ich bin dir so dankbar.", hauche ich und lehne mich vor, um meine Stirn an Jarrys zu legen.
Das Wissen um die schlichte Möglichkeit, das tun zu können, ihn einfach berühren zu können, ihm meine Empfindungen zeigen zu können, lässt mich unweigerlich grinsen.
Das ich noch immer denke, ich würde das hier gar nicht verdienen, dürfte nicht glücklich sein in meiner Schuld, spielt gerade keine Rolle. Es hat schließlich auch nicht mehr nur mit mir zu tun.

Lächelnd schließe ich die Augen und schlafe ein.
In dem überwältigend schönen Bewusstsein, den Menschen, der mich aus meinem Sumpf ziehen will, sei bei mir.

(Dritter Einschub.
Ein kurzes, außerplanmäßiges Kapitel aber ich möchte diese Nacht endlich hinter mich bringen.
Wann der nächste Abschnitt fertig sein wird, kann ich nicht einschätzt. Ich habe in letzter Zeit kaum Möglichkeiten zu schreiben, ich bin einfach zu müde/habe keine Zeit/keinen Schreibfluss.
Da ich aber der Ansicht bin, Zuverlässigkeit sei eine wichtige Eigenschaft, versuche ich mit dem 1-Wochen-Rhythmus fortzufahren.
Ich bitte um Verständnis.
Vielen Dank.)

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