7. Mittwoch (5)

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„Komm mit mir, nach draußen."
Ich nicke mit noch immer gesenktem Blick.
Doch als wir durch den Türspalt nach draußen treten, hebe ich unweigerlich den Blick, kippe sogar meinen Kopf ins Genick, das Gefühl der Schutzlosigkeit, meinen Hals dabei zu entblößen, ignorierend.

Ein völlig klarer, blauer Himmel strahlt mir entgegen, die Sonne ist stark genug, als dass ich ihre Wärme auf meinem verbittertem Gesicht spüren kann. Ich atme die kühle nach Frühling duftende Luft ein und entspanne mich, als ich sie wieder ausstoße. Wie lange ist es her, dass ich das letzte Mal diese Freiheit gefühlt habe? Glauben durfte, dass es nun besser werden wird? Einzig und allein weil meine Hormone durch die Frühlingsluft verrückt spielen und mir weißmachen, die mit Zweifeln beschwerten Ketten um meine Brust seien einfach von mir abgefallen?
Grinsend drehe ich mich zu Jarry um, der meinen Blick bereits erwidert. Das Licht komplimentiert sein ausgezerrtes Gesicht mit einem weichen, goldenen Schein und füllt die Furchen darin aus. Sofort kommt mir das Bild wieder in den Sinn, das Tuna mir vor einer gefühlten Ewigkeit gezeigt hat. Ich starre ihn an, wohl wissend, dass dieses Bild jetzt nicht lange so unbewegt und perfekt bleiben wird.

„Ihr seid gerade rechtzeitig zum Frühstück fertig geworden.", ertönt Matts Stimme plötzlich von rechts. Widerwillig reiße ich meinen Blick los und drehe mich um.
Matt scheint Hitze zu haben, er trägt nur ein langärmliges Shirt. Na, und natürlich eine Hose und Schuhe, aber mir persönlich wäre es ohne meine Jacke viel zu kalt.
Als ich mit vom Schlaf auf dem harten Untergrund entsprechend steifen Schritten hinüber gehe, finde ich die Anderen auf der kahlen Fläche zwischen den beiden Hütten sitzend vor.
Doch ich habe gar keinen Blick für sie.

Meine Kinnlade klappt beim Anblick des Gemäuers hinter der halb zerstörten Brücke, die wir gestern Abend schon gesehen haben, hinunter. Es verschlingt meine gesamte Aufmerksamkeit mit seinem steinernen, mahlenden Maul aus düsterem Gemäuer.
Es ist überwältigend. Dunkelgraue, von tiefroten Stützsäulen durchzogene Wände erstrecken sich meterweit auf beiden Seiten der Brücke, hinter der das Eingangstor liegt.
Unmittelbar neben dem Tor ragen identische Fassaden mit spitz zulaufenden, dunklen Schieferdächern so hoch, dass ich den Kopf ins Genick legen muss, um den Giebel sehen zu können. Was dahinter ist, vermag ich mir nicht vorzustellen, doch ich vermute, dass das Gebäude noch weit nach hinten bis zu der Felswand reicht, die auf der linken Seite erkennbar ist und vermuten lässt, dass der Platz nach etwa zweihundert Metern von ihr abgeschnitten wird.
An der oberen Etage der Fassaden sind Balkone angebaut, die sich mit Säulen an der schmalen Kante abstützen, die den Stand des Gebäudes mehr schlecht als recht sichert, da sie bloß einen halben Meter breit ist und wirkt, als würde sie jeden Moment in den Graben abrutschen. Es grenzt an ein Wunder, dass dies noch nicht passiert ist. Die Brücke, die gerade auf das Eingangstor zuführt, wird von einem sattelförmigen Konstrukt aus sich aneinander abstützenden Steinziegeln überdacht. Der Laufsteg wurde mit Holzbrettern gebaut, die schon weitaus bessere Zeiten gesehen haben. Ich freue mich jetzt schon darauf hinüber zu kraxeln...
Doch trotz seiner offensichtlichen Baufälligkeit thront das Anwesen herrschaftlich zwischen den im Verhältnis winzigen Bäumen. Die dunklen Steine erlauben ihm eine standhafte, einschüchternde Ausstrahlung, die durch seine zerfallenen Teile nur bedrohlicher wirkt, trotz des guten Wetters.

„Es ist unglaublich.", flüstert Jarry hinter mir und tritt dann einige Schritte nach vorn. Automatisch drehe ich den Kopf kurz in seine Richtung.
Doch ich drehe ihn nicht wieder zurück.

Verdammt, habe ich ihn noch nie im Profil gesehen?
Fasziniert fahre ich mit dem Blick daran entlang, wie als würde ich eine Form, zum Beispiel die meiner Hand auf einen Zettel übertragen wollen, sie bloß jetzt an Stelle eines Stiftes mit meinen Augen umrahmen.
Es interessiert mich brennend, ob die Augen ohne die brutalen Nebenwirkungen seines Daseins als Übermittler auch so tief liegen würden, der Einschnitt zwischen Augenbrauenknochen und Nasenrücken so extrem wäre und seine Lippen sich auch nicht durch den leichtesten Schwung hervorheben würden. Letzteres wäre sicherlich anders, oder? Ich habe es jedenfalls sonst noch nie so extrem an jemandem gesehen. Vielleicht erklärt dieser Umstand auch, warum er manchmal etwas undeutlich spricht. Ich muss darauf einmal achten. Wenn es bei Worten mit ‚m's der Fall ist, kann ich mir sicher sein.
Dennoch hat sein Gesicht wohl auf Grund dessen ungewöhnlicher markanter Züge, die sich auch durch seine Krankheit nicht austreiben lassen, einen eigentümlichen Stolz, dazu einen sicherlich hohen Wiedererkennungswert, was sogar so weit geht, dass es mir, zu meiner Überraschung, Respekt abverlangt.
Jarrys Augen huschen aufmerksam und völlig gebannt, immer wieder über das Gemäuer. Hat er vielleicht ein Faible für Architektur dieser Art?
Erst als ich beobachte, wie er die, was mir schon zuvor aufgefallen ist, bemerkenswert krumme, spitze Nase rümpft, bemerke auch ich den Geruch von verbranntem Brot, der in der Luft hängt.
Mit gerunzelter Stirn drehe ich mich um.

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