Seine Augen sind vom Schock so weit aufgerissen, das rings um die Iris weiß zu sehen ist. Seine Lippen öffnen sich, doch anstatt Worte zu entlassen, beginnen sie zu zittern.
Ich muss den Blick abwenden, noch mehr Schmerz, dazu von mir verursacht, ertrage ich nicht, schon gar nicht an ihm.Da packt mich jemand am Oberarm und zieht mich bestimmt zur rechten Hütte. Tuna. Natürlich.
Mit einem Ruck zerrt sie die Tür hinter uns zu.
Dann bedeutet sie mir mit einem Nicken, mich hinzusetzten, hockt sich vor mich und nimmt mein Kinn zwischen die Fingerspitzen. Sie dreht meinen Kopf sanft hin und her und betrachtet meine Wangen dabei mit zusammengekniffenen Augen. Ich lasse es einfach geschehen.
Zum zweiten Mal empfinde ich ihre Nähe nicht als unangenehm. Sie legt den Gedanken, dass ich kurz loslassen, die Verantwortung kurz an sie abgeben kann, wie ein weiches Kissen unter die amoklaufenden Gedanken in meinen Kopf.
„Der Os zygomaticum ist definitiv gebrochen, vermutlich sogar gesplittert."
Ihr Fachchinesisch sagt mir nichts, aber das ist vermutlich ein Knochen an der Stelle, von der aus sich ein seltsamer, pochender Schmerz ausbreitet. Also praktisch von einem Punkt etwa 2 bis 3 Zentimeter unterhalb meines linken Auges.Sie schnalzt mit der Zunge.
„Das muss operiert werden, das wächst niemals von allein wieder richtig zusammen. Ich hätte nie gedacht, dass Thomas so viel Kraft aufbringen könnte.", sie erwidert meinen Blick, den ich starr auf ihre Augen gerichtet habe, betroffen, „Das tut mir alles sehr leid. Ich kann deine Reaktion nachvollziehen."
Ich runzle die Stirn. Warum ist sie nur seit kurzem so gehässig und gewaltbereit? Besonders wenn es um Thomas geht. Ich bin mir sicher, dass es noch nicht so war, als ich gerade dazustieß. Ich kannte sie zwar nicht, aber ich weiß es irgendwie einfach.
Das Ritual muss einen Grund dafür liefern. Aber was ist es genau?„Na komm, es hilft nicht, hier zu sitzen. Ich fahre dich ins nächste Krankenhaus."
„Nein.", flüstere ich.
Ihre Stirn legt sich in strenge Falten, sie will etwas sagen, doch als sie sieht, wie ich Thomas Feuerzeug aus der Tasche ziehe, hält sie irritiert inne.
Ich erwecke das Flämmchen zum Leben und betrachte es kurz. Doch meine Entscheidung ist gefallen.
Ich muss riskieren, mein Wissen darum, dass Feuer mich nicht verletzt, mit Tuna zu teilen in der Hoffnung, es würde meine Wunde heilen, wie es geschehen ist, als ich mit ganzem Leib in Flammen stand. Wenn ich hier abbreche, wird Jarry Schwierigkeiten bekommen und ich meine Macht erst verspätet.
Das ist das Risiko allemal wert.Ich halte die Flamme an meine Wange und spüre im nächsten Moment, wie sich das Feuer über die Gesichtshälfte ausbreitet.
Tuna schnappt nach Luft und starrt es an.
Ich kann aus dem Augenwinkel erkennen, wie die Haut an meiner Wange wegfließt. Zischend und blubbernd landen Fett und Fleisch neben mir auf dem Boden, um dort zu Asche zu zerfallen.
Das würde sicher kein Chemiker unterschreiben.
Als das Jucken erneut beginnt, lenkt mich meine kaum in Worte zu fassende Erleichterung darüber, dass es funktioniert hat, einen Moment lang ab.
Dann erreicht die Heilung wohl auch mein Hirn.Nicht bloß Tuna wird etwas von der Heilung mitbekommen. Alle werden sehen, dass die Verletzung einfach weg ist und Fragen haben.
Scheiße.
Wieso habe ich daran nicht gedacht? Egal, bringt ja jetzt auch nichts mehr.„Wow. Sie ist geheilt. Nichts mehr ist zu sehen, Viki, das ist Wahnsinn, woher wusstest du das?"
Nichtssagend zucke ich mit den Schultern.
Wie verfahre ich jetzt mit meinem Problem? Mir fällt nur eine Lösung ein.
„Tuna, würdest du mir einen Gefallen tun?" Misstrauisch runzelt sie die Stirn.
„Das kommt ganz auf den Gefallen an.", meint sie dann, wohl in Gedanken an das, worum ich Thomas auf die gleiche Weise gebeten habe.
„Würdest du mir bitte eine Verletzung zufügen, die der von eben ähnelt, bloß nicht so schwerwiegend ist?"
Ich erkenne unmittelbar an ihrem Gesichtsausdruck, dass die Antwort negativ ausfallen wird.
„Nein, das werde ich ganz sicher nicht, aus zwei ganz simplen Gründen. Erstens schlage ich Niemandem einfach so ins Gesicht. Das ein oder andere Prinzip muss schließlich noch erhalten bleiben und zweitens, weil ich nicht an der Lüge beteiligt sein möchte, die du den Anderen damit unterbreiten würdest. Es träfe den Falschen, das verspreche ich dir."
Verärgert über ihre ausgerechnet jetzt zurückkehrende Vernunft wende ich den Blick ab und knirsche nachdenklich mit den Zähnen. Einmal Glück zu haben, ist also immer noch nicht drin.
Was für Alternativen habe ich? Ach so, und wen meinte sie überhaupt im letzten Satz?
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Mysterie
Mystery / ThrillerStelle dir vor, dein Leben kotzt dich an. Nicht dieses pseudo Ding, das jeder während der Pubertät mal hat. Sondern so richtig. Stahl harter Verdruss und ein tiefwurzelnder Hass auf alles um dich herum. Und dann ändert sich etwas. Die Veränderung b...