Kapitel 26

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Die Zeit zieht sich lang und ist zäh. Es ähnelt dem Zustand eines genutzten Kaugummis, der mit der höchst möglichen Seelenruhe auseinandergezogen wird. Bloß, dass der Zustand in dem du dich befindest das grausame Gegenteil der Seelenruhe darstellt. Zwar beruhigt dich der angenehme Geruch des Sohn Gottes in deinem Armen, die Wärme seines Körpers und das gleichmäßige Atmen, welches leise aber prägnant zu dir herüber schallt, doch diese Tatsache wird von anderen Faktoren zunichte gemacht. Geröll, lautes Krachen und bebender Boden versetzen dich in einen Zustand des Grauens. Schweißperlen kugeln deine Schläfe hinunter. Kalt und Nass lassen sie deinen Körper erzittern. Jedes Gefühl für Zeit ist entwichen. Es könnten Sekunden, Minuten oder gar Tage vergangen sein. Nichts würde dich überraschen. Es ist still geworden zwischen dir und dem Mann in deinen Armen, zu stark liegt die Konzentration darauf, nicht die Nerven zu verlieren. Auch wenn Ablenkung helfen würde, doch wer soll die Arbeit übernehmen, wenn alle Anwesenden mit ihrem eigenen Unbehagen zu kämpfen haben?
Dein starrer Blick wandert die Fläche des dir gegenüberliegenden Gesteins entlang. Irgendetwas scheint merkwürdig. Urplötzlich ist es gekommen, doch es ist so präsent, als würde es hinter dir stehen und dir langsam über den Rücken streichen, wie die Gänsehaut, die sich ihren Weg zu deinem Nacken bahnt. Die Steine liegen genauso gebrochen vor dir, wie zuvor. Risse zieren die Wand und riesige Brocken teilen das Abwasser in zwei Bahnen. Wie davor. Unverändert.
Unverändert! Der Schreck durchflutet dich. Wie die Flut schwemmt er die Ebbe der Unwissenheit hinfort.
Eiserne Stille umgibt euch, der Boden steht still und für einen Augenblick denkst du er hätte euch. Gott hätte euch gefunden und würde euch die gerechte Strafe für all das unzüchtige Verhalten geben. Der Tod und mit ihm würde Satan kommen und dich ewig im Fegelfeuer für deine Sünde bestrafen.
Doch nichts geschieht und so langsam beginnst  du wieder ruhig zu atmen.
"Es ist vorrüber", flüsterst du und streichst über die dunklen Locken Jesu. Dieser schaut dich mit einem gar fremdartigen Ausdruck an und steht langsam auf. Seufzend streckt er seine Arme in die Höhe und gähnt ausgiebig. Du kannst deinen Augen nicht trauen. Da steht er einfach auf und tut so als, wäre das alles eine lange Pause, ein kleines Nickerchen gewesen. Du schüttelst ungläubig den Kopf. Zwei, drei mal knackst es gedämpft zu dir rüber. Es lässt dich schmunzeln und so tust du es deinem Partner nach, erhebst dich und streckst deine alten Knochen gen Himmel.
"Ich sehe, du bist ein Mann der Taten und möchtest weiter ziehen.", stellst du fest und schmunzelst erneut, als du den beschämten Blick deines Begleiters erhaschst.
"Genau", antwortet dieser und geht auch direkt einige Schritte vorwärts. Schnell holst du ihn ein und greifst nach seiner Hand. Er zuckt kurz zusammen, doch entspannt sich schnell. Dann lauft ihr einfach so weiter, als wäre nichts geschehen. Wer sich fickt sollte sich an soetwas auch nicht stören, doch trotzdem bereitet es dir ein aufgeregtes Kribbeln, eine solche Art der Annäherung zu wagen.

"Wo sind wir, was denkst du?", fragt Jesus murmelnd.
"Wird das jetzt ein Ratespiel?", entgegnest du amüsiert um deine Unwissenheit zu überspielen.
"Hast du denn eine bessere Idee?"
"fang mich!", befiehlst du schnell und rennst los. Deine Hand löst sich locker aus der des Auferstandenen und wird hart nach Vorne geschwungen. Das Wasser rauscht unter euch hinweg. Es ist fast so, als würdest du mit der Strömung mitgerissen, doch deine sprunghaften Schritte knallen mit einer Heftigkeit auf die Wasseroberfläche, die die Falschheit dieses Gedankengangs mehr als beweist. Und doch, für dich ist es der wundervollste Moment. Ihr seid frei und am Leben. Und zusammen. Zwar stinkt es nach Abwasser, es ist düster und dreckig, doch das sind nicht die Werte, die  dir am Herzen liegen.
Das Fußplatschen hinter dir wird lauter  und lauter; und kommt näher. Jesus Lachen schallt zu dir herüber und da geschieht es. Sonnenlicht überfällt deine Sinne, das Abwasser wird flacher und ein brennender Strom Sauerstoff schießt in deine Nase. Es dauert einen Moment, bis sich deine Augen an das Licht gewöhnt haben. Leuchtende Punkte tanzen vor ihnen, mal weiß, mal rot. Es ist ein Farbenspiel der Natur und ein Angriff auf deine Netzhaut.
Langsam erstreckt sich vor dir ein kleines Dorf. Hütten schmücken die Landschaft, liegen verstreut zwischen Gras und Bäumen.  Ein leichter Wind weht, er küsst dein Gesicht und bewegt die Wolken. Sie wandern über die blauen Weiten des Himmels und hinterlassen fleckenartige Schatten auf der Drecksplörre an deinen Füßen. Dunkle Flecken, wandernde Flecken, wunderschöne Flecken. Du lachst und schaust zu Jesus, der ebenfalls grinst. Für einen Augenblick bleibt ihr dort stehen, am Ausgang des Abwasserkanals und genießt das Gefühl, das euch durchströmt. Ein Gefühl, verwandt mit dem des Stolzes. Ihr habt es geschafft vor Gott zu fliehen und steht nun an einem namenlosen Ort, gottverlassen. Und euch steht die Welt zu Füßen.

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