Flucht

147 5 0
                                    

Festentschlossen packte ich die nötigsten Sachen, die ich fürs Übernachten brauchte, zusammen. Ich würde unter gar keinen Umständen eine Sekunde länger in diesem Zimmer bleiben, wohl wissend, dass Eric jederzeit zu mir herüber spazieren konnte, wenn ihm danach war.
Ich hatte einen Fehler gemacht, ja.
Und dieser Fehler würde sich nicht wiederholen.
Tshirt, Shorts, Decke und Kissen mussten fürs Erste reichen. Vielleicht bot mir Lara wieder einen Platz in ihrem Bett an, dann würde ich am drauffolgenden Tag in Ruhe nach einer Übergangslösung suchen.


Ich öffnete die Tür und blickte vorsichtig nach Links und rechts. Niemand in Sicht- also los.

Auf meinem Weg durch die Gänge des Lagers kam ich am Tattoostudio vorbei. Dabei fiel mir auf, dass ich diesen Teil der Initiation völlig ignoriert hatte. Ich hätte mit Evan und Lara dorthin gehen sollen, als das alles noch nicht passiert war. Wehmut stieg in mir hoch. Der Preis, den ich für die Rückkehr ins Ranking bezahlt hatte, war hoch. Aber nicht so hoch, wie der, den ich für ein Leben außerhalb jeder Fraktion bezahlen müsste.

Fast wäre ich um die nächste Gangecke gebogen, da hörte ich Erics Stimme. Fluchtartig drehte ich um und raste zurück. Die Tür vom Tattoostudio wurde geöffnet, sodass ich in meiner Hektik beinah mit voller Wucht dagegen gestoßen wäre. Ohne eine Sekunde zu zögern sprang ich in den Raum.
Zwei Feroxmitglieder machten mir erschrocken Platz und verließen dann kopfschüttelnd das Studio.
,,Hi."


Mit dem Rücken zu mir gewandt stand eine junge Frau mit blonden Haaren, die zu einem frechen Bob gestylt waren.
,, Möchtest du ein Tattoo oder ein Piercing? Oder willst du erstmal schauen?" ,,Ja, äh...also ich schaue erstmal."
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Als Erics Stimme auf Höhe der Eingangstür zu hören war, huschte ich hinter die Theke, auf der Tattoo-Magazine, eine Spendenkasse und einige Flyer verteilt waren. ,,Hoppla." sagte die blonde Frau und grinste. ,,Versteckst du dich vor Eric?" ,,Bitte verraten Sie mich nicht." flehte ich sie an. ,,Es ist gerade etwas chaotisch zwischen uns."
Sie stemmte die Hände in die Hüften und nickte. ,,Das ist ja nichts Neues. Ich bin übrigens Caly." Meine Augen wurden groß. ,,Du bist ...äh Sie sind Caly?" Ich verließ meine Deckung und musterte sie. Sie trug den schwarzen Trainingsanzug der Ferox, hatte eine schmale Taille, eine runde Hüfte und ziemlich lange Beine. Ihr rechtes Ohr war voller Piercings. ,,Und du bist?" ,, Äh...ähm...Alexis." ,,Hi Alexis. Ich freu mich. Wie wär's: du schaust ein bisschen durch was du haben willst und erzählst mir, warum du dich hier versteckst?" ,,Okay." erwiderte ich schüchtern. Caly reichte mir einen Katalog und klopfte auf die Theke. ,,Du kannst dich hier ran stellen. Magst du was trinken? Wir haben Cola, Cola Zero, Sprite, Radler und Bier." ,,Ich nehme ...eine Cola Zero." sagte ich und fing an zu blättern. Die Motive waren schön, aber ich konnte mich kaum auf die Bilder konzentrieren. ,,Also, jetzt mal raus mit der Sprache: warum versteckst du dich vor Eric?" Ich zögerte und senkte den Blick. ,,D-du warst doch mit ihm zusammen...ich weiß nicht ob..." ,,Das ist schon lange her. Du kannst ruhig frei sprechen." ,,Stimmen die Gerüchte?" platzte es aus mir heraus. ,,A-also dass Eric Initatinnen ausnutzt?" Caly hob eine Augenbraue. ,, Läuft etwas zwischen euch?"
,,Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Wir...haben beide diese türkisen Pillen genommen und..." ,,und du weißt nicht, ob das, was passiert ist, nur deswegen war?" beendete Carly meinen Satz. Ich seufzte zustimmend. ,,Also ich kann dich, was die Gerüchte angeht, beruhigen. Eric ist zwar ziemlich kühl gegenüber den Initianten, aber ein Womanizer ist er nicht. Er hat sich seinen Posten bei den Ferox hart erkämpft. Darum ist es ihm auch so wichtig, dass hier alle ihn respektieren. Nichts ist schlimmer als ein schwach-wirkender Anführer. Jemanden zu lieben, sich auf jemanden einzulassen- das macht schwach. Und ich denke, Eric hat Angst, dass er dadurch sein Gesicht verliert."
Ich starrte nachdenklich vor mich auf die Theke. Was Caly sagte, ergab Sinn. Vor allem auch, dass ich Eric bis auf die paar dürftigen Male nie hatte lachen sehen. Er hielt eine Art innere Mauer aufrecht.


,,Und warum...seid ihr auseinander?" fragte ich vorsichtig. ,,Ich hab mich in jemand anderes verliebt." antwortete Caly und drehte sich hinter der Theke zu einem großen Metallschrank um. Sie öffnete die Türen und suchte einige Schrankfächer durch, dann drehte sie sich wieder zu mir und beugte sich vor, um nach einer meiner dunklen Haarsträhnen zu greifen, die neben meinem Gesicht hing. Ich zuckte automatisch ein wenig zurück. Caly lächelte sanft und musterte mein Gesicht. ,,Was hälst du eigentlich von einem Piercing?"

,,Ich?" antwortete ich reflexartig, obwohl ich die einzige Person im Studio war. ,, Ähm ja. Ja, warum nicht. An der Lippe." ,, Willst du eines oder zwei? Ich denke, Snake Bites würden dir auch ganz gut stehen. Und ich habe noch ein paar schwarze Kugeln da. So, an der Unterlippe links und rechts- oh ja das würde schick aussehen."
Sie holte eine kleine Tüte unterm Thresen hervor und hielt sie an meinen Mund. Ich griff nach dem Tütchen und presste es an meine Lippe. ,,Gibt es einen Spiegel?" Caly hielt mir einen kleinen Handspiegel hin. Was ich sah, gefiel mir auf Anhieb. ,, Nehm ich."

Ich hatte immer geglaubt, ein Piercing stechen täte unheimlich weh- nur das hier war anders. Es ging schnell und ich spürte absolut keinen Schmerz außer ein leichtes Ziehen. Stolz betrachtete ich die schwarzen Kugeln im Spiegel. Es sah fast so aus, als hätte ich sie schon immer an der Lippe gehabt. ,,Na was sag ich- steht dir wirklich gut." Carly quietschte vergnügt. ,,Danke. Kann ich vielleicht noch eine Weile hier bleiben?" Ich hob den Blick, um zu sehen, wie Carly reagieren würde. Sie runzelte die Stirn. ,,Ich meine nur weil....also weil... Eric hat mir ein Zimmer in dem Gang gegeben, in dem er auch seines hat. Und ich habe Angst dass er..."
Sie nickte. ,,Ich versteh schon. Bleib so lang du willst. Du kannst das hier als eine Art Unterschlupf betrachten, so lange bis die Sache zwischen euch geklärt ist. Die Tattooliegen sind zwar zum Übernachten nicht ideal, aber zur Not doch besser als der Boden. Außerdem wollte ich eh später in die Stadt, um ein bisschen Material zu holen. Du könntest mich begleiten." Ich nickte erleichtert. Caly war netter als gedacht. Zugegeben: ich hatte einige Vorurteile, als Ivo sie erwähnte. Und ja, ich hatte auch Angst, dass sie Eric vielleicht hätte zurück haben wollen. Umso beruhigter war ich, dass dem nicht so war und dass sie meine Lage verstand.


Ein bestimmter Tag XWo Geschichten leben. Entdecke jetzt