Eric wischte sich wiederholt übers Gesicht und hatte innerhalb von Sekunden seine Fassung zurückerlangt.
,, Entschuldige mich..." sagte er knapp und ließ mich stehen.Ich fühlte mich wie festgetackert. Als hätte jemand einen übergroßen Tacker genommen und mir die Klemmnadeln in die Füße gerammt. Mein Kopf befahl mir zu gehen, aber meine Beine bewegten sich nicht. Eric hatte geweint. Und das Bild, das sich in mein Gehirn gebrannt hatte, wirkte so absurd, dass ich es für eine Einbildung halten wollte. Warum hatte er geweint?
Ich wusste, dass er Dinge getan hatte, die unverzeihlich waren. Noch bevor ich zu den Ferox gekommen war. Lange davor.
Eric hatte einen Ruf und es war kein sonderlich guter.
Sogar bei den Ferox gab es genügend Fraktionsmitglieder, die ihn abgrundtief verabscheuten. Nicht zuletzt deswegen, weil er keine Skrupel hegte, Menschen einfach zu töten. Aber die hegten die VI auch nicht.Aus den Augenwinkeln sah ich Jaide durch das Lager stapfen, die einen missbilligenden Blick in meine Richtung warf. Sie hätte Eric gern tot gesehen. Dennoch hatte sich die Mehrheit der VI dafür entschieden, Eric vorerst Unterschlupf zu gewähren. Unter anderem, weil er ihnen durch seine Informationen einen entscheidenden Vorsprung im Kampf gegen die Fraktionen verschafft hatte.
,,Radall!" zischte Jaide und kam zielstrebig auf mich zu. ,,Ich weiß nicht, ob du wirklich so dämlich bist, mich dermaßen zu unterschätzen. Ich weiß, was zwischen dir und Coulter läuft. Wie abgefuckt muss man eigentlich sein..." Sie lachte hämisch. ,,Ich weiß nicht, was d....." Sie unterbrach mich. ,,Ach bitte. Wie lange willst du das noch leugnen? Bis ich euch nackt zwischen den Bäumen erwische? Dann werde ich aber dafür sorgen, dass hier alle das zu sehen bekommen."
Ich schwieg.
,,Okay, ja, da war etwas. Zufrieden?"
,,Ich bin zufrieden, wenn das Coulter-Pack die gerechte Strafe erhält für all das, was sie mir und den anderen angetan haben. Und du bist im Weg. Wenn dein Vater nicht wäre, hätte ich längst dafür gesorgt, dass Coulter im Wald verscharrt wird. Und du gleich mit ihm. Verräterin. Wie fühlt es sich an, einen Mörder zu lieben?"
,,Wie kann man nur so selbstgerecht sein?" fauchte ich zurück. ,, Glaubst du denn, was die VI tun, wäre etwas anderes?" Jaide kam ganz nah an mich heran und starrte kalt auf mich herab. ,,Die VI sind meine Familie. Und ich beschütze meine Familie!"
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verschwand zwischen den Trucks und Motorrädern.Nur haarscharf waren die VI dem Angriff mehrerer Fraktionen entgangen.
Ron hatte das Hauptlager in der alten Halle gerade rechtzeitig abgebrochen und die Trupps hatten den großen Zaun fast erreicht, da gab es eine gewaltige Explosion in der Nähe der Stadt. Da es zu gefährlich war, weiter im geschützen Raum des Systems zu verweilen, verließen die VI das umzäunte Gebiet und so landeten wir auf einer Lichtung in einem kleinen Wäldchen, ringsherum geschützt von hohen Bäumen. Ron hatte auf der Fahrt einige Male über ein Funkgerät mit Eric gesprochen und obwohl ich nicht alles hören konnte, wusste ich, dass Eric den VI geholfen hatte, einige Fallen zu umfahren.Es dämmerte bereits, als ich mich an einem der vielen Lagerplätze niederließ, in dessen Mitte ein Feuer brannte. Das Abendessen war dürftig, aber ich hatte solchen Hunger, dass ich mich nicht darum kümmerte. Ich hockte auf dem Boden und ließ meinen Blick über die Köpfe der Menschen schweifen, in der Hoffnung, den nur allzu bekannten, blonden Haarschopf irgendwo zu entdecken. Ich sah meinen Vater neben Ron sitzen. Gegenüber von ihm hockte Arrie und unterhielt sich mit Evan.
,, Suchst du irgendwen?" riss mich eine vertraute Stimme aus den Gedanken und ich spürte mein Herz zwei Schläge aussetzten.Noch bevor ich Eric ansah, zitterten meine Hände bereits.
Er hockte sich neben mich und sein Knie berührte unwillkürlich mein Bein. ,,Mh, dürftiges Essen. Aber ich will mich nicht beklagen." Er griff nach einer Scheibe Brot und einem Apfel. Ich wagte nicht, ihn anzusehen. Zu groß war meine Angst, etwas in seinem Blick zu erkennen, das mich verletzen könnte. Eric beugte den Kopf vor und sah mir direkt in die Augen, sodass ich gezwungen war, ihn anzusehen. ,,Was ist?" fragte er. ,,Das frage ich dich." murmelte ich leise.
Ohne zu antworten biss Eric geräuschvoll in den Apfel und kaute einige Sekunden.
,,Denkst du, ich bin dir etwas schuldig?"
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. ,, Vielleicht sowas wie eine Entschuldigung. Eine Erklärung dafür, warum du zugelassen hast, dass die Ferox mich verraten." ,,Zugelassen? Denkst du denn, es gab jemals so etwas wie eine freie Wahl? Die gab es nie. Nicht für mich. Nicht für die Initianten. Nicht für die Fraktionen." Seine Stimme wurde leise.Ich holte tief Luft ,,Es ist mir egal, was du getan hast. Das spielt keine Rolle für mich. So gesehen habe auch ich keine Wahl."
Eric lachte auf. Aber es klang gequält. ,,Was hat Caly dir erzählt?" ,,Das, was ich wissen musste." ,,Und das wäre?" ,,Das du gelernt hast, zu überleben." Er schluckte.
,,Was ist, wenn ich nur hier bin um euch alle zu verraten?" Ich schüttelte den Kopf. ,,Das glaube ich nicht." ,,Und wenn es so wäre?" Ich drehte mich zu ihm. ,,Warum würdest du uns helfen, um uns dann alle sterben zu lassen?" ,,Vielleicht bin ich kaputter als du denkst."
,,Ich glaube es trotzdem nicht." sagte ich mit fester Stimme und er lächelte. Aber diesmal wirkte es echt. Und es verschwand nicht binnen Sekunden.
,, Ist ungewohnt, dich lächeln zu sehen. Normalerweise grinst du doch eher fies." ,,Oh, das vermisst du wohl. Ist es das, was mich so unwiderstehlich macht?" Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und blinzelte übertrieben. ,,Ja, ganz bestimmt." neckte ich ihn.Unsere Kniee berührten sich wieder, aber Eric machte keine Anstalten, sein Bein wegzuziehen. ,,Ich habe es gehasst, nichts tun zu können. Ich wusste, dass die Ferox mich irgendwann verraten würden. Dann kamst du und warst meine einzige Zeugin und sie haben dafür gesorgt, dass du rausgeflogen bist. Ich war mir sicher, dass sie dich töten würden."
,,War ich nur eine Zeugin?" fragte ich leise und wappnete mich innerlich auf eine Antwort, die das bestätigen würde, was ich befürchtet hatte.
Eric betrachtete den halb aufgegessenen Apfel in seinen Händen und blickte starr nach vorne. Dann schüttelte er langsam den Kopf. ,,Nein, bist du nicht." Unsere Blicke trafen sich und ich wollte gerade etwas sagen, da unterbrach mich Dads aufgeregte Stimme. ,,Alexis! Deine Mutter! Wir haben sie gefunden! Sie ist in Gefahr!"Dad drückte mir ein Gewehr in die Hand und warf sich den Gurt eines Patronengürtels über die Schulter. ,,Wie du damit umgehen musst, weißt du?" Hektisch drehte er sich kurz um und winkte einige VI heran. ,,Sicher." Ich drückte das Gewehr gegen meinen Oberkörper und folgte meinem Vater zu einem dunkelgrünen Jeep. ,,Steig ein." sagte er und ich öffnete die Tür. ,,Du?!" Eric sah nicht so überrascht aus wie ich. ,,Ich begleite euch. Jetzt steig schon ein." Ich ließ mich auf das Polster der breiten Sitzbank fallen und mein Vater folgte mir. ,,Wir haben nicht viel Zeit! Die anderen Fraktionen dürfen sie auf keinen Fall vor uns finden." Eric startete den Motor und trat aufs Gaspedal. ,,Ich fürchte, selbst wenn wir sie vor ihnen finden, stehen wir mitten im Krieg. Das System ist gescheitert und die Menschen verängstigt, weil ihr gewohnter Alltag zunehmend aus den Fugen gerät. Ihr werdet nirgendwo mehr durchkommen. Zumindest nicht als VI." Eric deutete mir, hinter die Sitzbank zu greifen und ich holte drei Feroxanzüge hervor. ,,Du hast welche besorgt?" Er zwinkerte. ,,Es gibt noch ein paar Freunde, die dich sehr vermissen." Lara. Er sprach von Lara.
Während Eric uns in halsbrecherischem Tempo wieder in die Nähe des Zaunes brachte, zogen mein Dad und ich uns die Anzüge über. Hinter uns fuhren zwei weitere Wagen mit schwer bewaffneten VI. Die Jeeps hielten im Schutz eines dichten Gestrüpps mitten im Wald. Wir sprangen aus dem Wagen und kaum das auch Eric in den Feroxanzug geschlüpft war, gab mein Dad den Trupps das Zeichen zum Aufbruch. Ich lief dicht neben Eric und warf ihm mehrere, flüchtige Blicke zu. Als er es bemerkte, kam er unauffällig dichter und unsere Handrücken berührten sich kurz beim Gehen. Vor uns wurden Schüsse und Schreie laut und die VI stoben auseinander, um zwischen den Bäumen Deckung zu suchen. Eric zog mich mit sich hinter den breiten Stamm eines riesigen Ahorns.
Er gab mir ein Zeichen und ich nickte stumm. Langsam arbeiteten wir uns von Baum zu Baum weiter vor in die Richtung, aus der die Schüsse immer lauter wurden.Mehrere Wagen der Ferox standen in einem Halbkreis geparkt. Dahinter hatten sich Feroxsoldaten verschanzt und schossen in unregelmäßigen Abständen mitten ins dichte Grün des Waldes.
Ohne lang zu überlegen schlich Eric sich vorwärts und schaltete binnen Sekunden einen Feroxsoldaten nach dem anderen aus. Ich hockte da wie erstarrt und sah zu, wie ein Körper nach dem anderen dumpf zu Boden fiel.
,,Keine Bewegung!" durchschnitt eine weibliche Stimme Erics Himmelfahrtskommando. Ich hob den Blick und umfasste zitternd meine Waffe, als blinde Wut in mir empor stieg.Eric ließ die Waffe fallen und hob die Hände, als er den Lauf einer Pistole an seinem Hinterkopf spürte. Langsam drehte er sich um. Fenjas Gesicht triefte nur so vor Verachtung. Sie zog ihre Hand zurück, entsicherte die Pistole und beugte sich zu Eric herunter, um ihm ins Gesicht zu sehen. ,,Mieser Schwächling.
Und ich habe wirklich geglaubt, du wärst was Besonderes. Du widerst mich an!"
Dann schoss sie.

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Ein bestimmter Tag X
FanfictionWas passiert, wenn man als Initiantin bei den Ferox gründlich versagt, aber um jeden Preis im Ranking bleiben will? Und wenn dann auch noch der allseits gefürchtete und überaus fiese Anführer durch einen Zwischenfall ein Auge auf einen wirft... Alex...