Die Wütenden

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,,Wartet, bis sie aufgewacht ist." hörte ich eine tiefe Stimme dumpf neben meinem Kopf. Ich blinzelte mühsam, aber meine Augen ließen sich nur langsam öffnen. Um mich herum standen etliche Gestalten mit Waffen in den Händen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Offensichtlich befand ich mich in einer Art Lagerhalle, die sich weit nach hinten mit einer riesigen, freien Fläche erstreckte.

Panisch versuchte ich meine Hände nach vorne zu ziehen, aber sie waren hinter meinem Rücken fixiert. ,,Wer seid ihr?" rief ich ängstlich. ,, Und was wollt ihr von mir?"

,,Wir..." sagte ein blonder, sportlicher Hüne mit einem grünen Schal um den Hals. ,,Sind die VI-Fraktion." Er trug einen Kurzhaarschnitt, eine dunkelgrüne Weste und eine Militärhose. Auf seiner linken Hand, in der er ein beachtlich-großes Messer hielt, prangte außerdem eine sichelförmige, längliche Brandnarbe.
,,Die was?" stotterte ich verwirrt.

VI-Fraktion? Davon hatte ich noch nie gehört. Das konnte nicht offiziell sein. ,,Die VI stehen für den englischen Begriff Livid. Wir sind die Wütenden. Menschen, die aus ihren Fraktionen geworfen wurden, die verraten wurden, die durch das System auf der Straße gelandet sind. Aber nicht alle von uns sind schwach und werden ihr Schicksal akzeptieren. Und da wärst du nun- Tochter des Mannes, der den größten Verrat seit Jahren begangen hat, weil er mit dem Feind ins Bett geht. Und das hat dafür gesorgt, dass man dich nun ebenfalls verraten hat. Kinder haften für ihre Eltern." Er machte eine theatralische Pause. ,,Mein Name ist übrigens Ron. Und ich bin der Anführer der VI."

,,Warum bin ich hier? Was wollt ihr von mir?"
Ron lächelte. ,,Ist das nicht offensichtlich? Du wurdest raus geschmissen wegen einer Sache, die nicht du, sondern dein Vater verbrochen hat. Wenn da nicht die Ungerechtigkeit zum Himmel schreit. Außerdem glaube ich, dass du eine starke Persönlichkeit bist, die sehr gut in unser Team passt. Nimm uns das mit den Fesseln bitte nicht übel, aber wir hatten hier schon einige Schafe im Wolfspelz."

Das, was Ron sagte, klang einfach zu gut. Dass die Fraktionslosigkeit nicht das Ende war, in einer Welt, in der uns das von Kindesbeinen an erzählt wurde, wirkte so irrational. War ich vielleicht immer noch in einer Angstwelt? Und wenn ja, was musste ich tun, um diese Prüfung zu bestehen?

Oder war das alles wirklich passiert und ich lag hier, vorerst gefesselt bei einer Fraktion, die mir anbot, mit ihnen auf einen Rachefeldzug der Gerechtigkeit zu gehen? Stirnrunzelnd schüttelte ich den Kopf. Das klang völlig absurd. ,,Was ist?" fragte Ron und seine stechend-grünen Augen fixierten wissend mein Gesicht. ,,Glaubst du mir nicht?"

,,Wie viele seid ihr?" fragte ich vorsichtig. ,,Einige. Über die Jahre hat sich eine Menge angesammelt. Wir sind stark genug, um es mit den Fraktionen aufzunehmen. Und wir haben überall unsere Leute." ,,Wie kommt es, dass sie euch nicht kriegen?" ,,Blut ist dicker als Wasser. Familien wollen ihre Mitglieder in Sicherheit wissen. Das sind sie hier eher als auf den Straßen. Gerade unter den Fraktionslosen herrscht Gewalt und manche Fraktionshöheren behandeln niederes Volk gern wie Freiwild."
Seine Stimme triefte vor Verachtung.

,,Die Fraktionen sind ein System, dass Sicherheit suggeriert. Aber jedes System hat seine Schwachstellen. Und manchmal sind es mehr, als gut wäre."

Rons Worte taten auf seltsame Art und Weise gut. Vor allem nach dem Verrat und dem Dilemma, vor das mich das abrupte Ende bei den Ferox gestellt hatte. Nur eine Person stahl sich immer wieder in meine Gedanken: Eric.

Was, wenn er doch nicht gelogen hatte? Was wenn sie ihn jetzt töten würden?
Ich fühlte mich machtlos diesem Gedanken ausgeliefert und die klamme Angst, ihn nie wieder zu sehen, krallte sich Stück für Stück tiefer in mein Herz.
Meine einzige Chance, Eric vielleicht noch einmal zu sehen oder mit ihm zu reden, waren die VI.

,,Wenn ihr eine Fraktion seid...seid ihr dann nicht auch Teil des Systems?" Die Frage lag mir die ganze Zeit schon auf der Zunge. Mir war noch immer nicht klar, welche Absichten die VI genau verfolgten. Dass sie auf Rache aus waren, war klar. Aber war ihr Ziel, das System zu stören nicht auch ein Himmelfahrtskommando?

Ron grinste. ,,Um ein System zu unterwandern ist es hilfreich, Teil des Systems zu sein. Krieg macht uns keine Angst." Die Art wie er das sagte, ließ in mir eine leise, wachsame Vorsicht empor kriechen. Es fühlte sich wie eine Warnung an. Aber ich konnte nicht ausmachen, wo vor.

Ich war zwar schüchtern, aber nicht naiv. Vielleicht war ich auch nur hier, um ein weiteres Mal verraten zu werden. Oder ich war nur ein Druckmittel. Jedenfalls hatten mich die VI sicher nicht von der Straße aufgelesen, weil sie mich so sympathisch fanden. Ron machte einen Schritt auf mich zu und bedeutete einer der Personen, von denen ich umringt war, meine Fesseln zu lösen. ,,Arrie wird dich ein bisschen rum führen und dir alles zeigen. Und dann wird sich die Kerntruppe zur Versammlung treffen. Ich würde mich freuen, dich dort begrüßen zu dürfen."

Ich hatte Arrie zuerst für einen Mann gehalten. Die schwarzen, kurzen Haare und die schlanke, androgyne Silhouette in einer übergroßen Motorradjacke und schweren, schwarzen Stiefeln wirkten stark und bedrohlich. Doch als Arrie sich zu mir umdrehte und die feinen Gesichtszüge mich belustigt musterten, war ich überrascht. ,,Ich bin Arrie. Und das hier ist das Reich der VI." Sie drehte sich schwungvoll mit erhobenen Händen um die eigene Achse wie ein Showmaster. Als sie ihre Arme fallen ließ, rasselten Ketten an den Taschen ihrer Jacke.

,,Und du warst also 'ne Ferox. Besonders mutig wirkst du nich gerade." Sie lief lässig weiter und rasselte absichtlich mit ihren Ketten. Ein wenig eingeschüchtert trottete ich hinter ihr her, nur um im nächsten Augenblick wie angewurzelt stehen zu bleiben. ,,Naa Hübscher." flötete Arrie und nickte Evan zu. Er schien genauso überrascht wie ich zu sein. ,,A-a-alexis?" ,,Evan." Die Freude überwog meine Unsicherheit und ich fiel ihm regelrecht in die Arme. ,,Gott, ich bin so froh dich zu sehen!"

,,Warum du? Warum hier?" Ich sah ihn mit großen Augen an. ,,Das kannst du dir doch denken oder? Ich hatte das Zeug zwar auch nur von den Ferox. Aber natürlich haben sie es geschickt so gedreht, dass ich am Ende raus geflogen bin."

Natürlich war ich nicht die Einzige, die von den blauen Pillen geschluckt hatte. Und natürlich wusste Eric das.
Er hatte es gewusst.
Also war das, was im Trainingsraum passiert war, pure Absicht gewesen.

Evan riss mich aus meinen Gedanken.
,,Sogar Eric wusste das mit den Pillen. Aber bei ihm kann man sich ja denken, dass das nichts Gutes bedeutet."
Ein leiser, stechender Schmerz durchzog meine Magengegend.
Hatte das vielleicht auch bei anderen Mädchen funktioniert?

,,Wie auch immer- ich bin froh, dass ich bei diesen Verrätern raus bin. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so froh sein würde, fraktionslos zu werden.
Sie erzählen uns jahrelang, dass das
das Ende ist. Gäbe es die VI nicht, hätten sie vermutlich recht. Aber nicht so. Gut heißt nie gut für alle. Das System ist da, um den Frieden zu wahren- auf dem Rücken von denen, die sich nicht wehren können!"
Evans Augen blitzten.
,,Die VI sind anders, Alexis. Das sind alles Leute wie du und ich, die sie loswerden wollten. Sogar Unbestimmte sind hier. Arrie ist auch eine!" Er zwinkerte Arrie zu und sie zwinkerte keck zurück.

Ich hatte zwar keine Vorstellung davon, seit wann genau Evan bei den VI lebte, aber es klang irgendwie alles zu gut. Zu perfekt. Zu nachvollziehbar. Ich fühlte noch immer diese leise Vorsichtig in mir wie eine Stimme in weiter Ferne, die mir etwas Wichtiges zu sagen hatte...


Ein bestimmter Tag XWo Geschichten leben. Entdecke jetzt