Ein ungünstiger Zeitpunkt

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Ich würde mich rächen. Für meinen Vater. An den Ferox. Und an Eric.
Mein Entschluss stand fest.

Ich wollte gerade zurück in die Lagerhalle treten, da versperrte Ron mir den Weg. Ich versuchte, seinen stechend grünen Augen auszuweichen, denn es fühlte sich an, als würde er lesen können, was ich dachte, wenn ich ihn ansah.
,,Ich dachte, Evans Beispiel zu folgen und mit dir unter vier Augen zu reden, wäre eine gute Idee. Mich interessiert, was du denkst." Seine Stimme war genauso markant wie sein Gesicht. Und irgendetwas an ihm schüchterte mich ein.

,,Ich ähm....ich bin....irgendwie ziemlich durcheinander." stammelte ich hilflos und blickte betreten zu Boden. ,,Das wundert mich nicht." Ron lächelte. ,,Es ist das eine, das Elternhaus zu verlassen um in einer neuen Fraktion Fuß zu fassen. Aber dann die Fraktion zu verlieren und plötzlich vor dem Nichts zu stehen, obwohl man eigentlich mit seinen Mitstreitern in der Fraktion ein neues, sicheres Zuhause gefunden haben sollte....das ist etwas ganz anderes."

Langsam hob ich meinen Kopf und mein Blick blieb abermals an der sichelförmigen Narbe hängen, die auf Rons Hand prangte. ,,Du willst wissen, woher ich die habe." Überrascht sah ich auf und nickte. ,,Das war das erste Mal, als wir auf der Straße nach Fraktionslosen gesucht haben." Ron lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer der Lagerhalle.

,,Wir waren nur zu dritt und trafen auf einen Trupp Ferox-Soldaten, die zusammen mit einigen Ken Nahrungsmittel an die Fraktionslosen verteilen. Ein älterer Junge mit zerissener Kleidung und schmutzigem Gesicht drängte sich nach vorne. Er rief, dass es seinem Bruder sehr schlecht gehe und sie seit Tagen nichts zu essen bekommen hätten, weil die anderen Kinder sie schneiden würden. Die Ferox-Soldaten stießen ihn zurück, ganz ans Ende der Schlange und bedeutetem ihm, dass er froh sein könne, wenn er überhaupt noch etwas bekäme. Vor lauter Wut trat ich vor und riss ihnen mehrere Nahrungsmittelpakete aus den Händen. Einer der Ferox zog sein Messer und packte mich am Kragen. Während er die Sichel in meine Hand schnitt, erörterte er mir leise, was mit mir geschehen würde, sollte ich dasselbe das nächste Mal versuchen. Ich erwiderte nur, dass sie die Wut niemals töten könnten, egal, wie viele Menschen sie umlegen würden."

Ron lächelte und ich schluckte mühsam. ,,Jetzt weißt du es." sagte er zögernd und atmete geräuschvoll aus. ,,Was war da mit dir und Coulter?" Ich kniff meine Augen zusammen. Es war ja klar, dass diese Frage irgendwann kommen musste. Aber ausgerechnet jetzt. Und wie sollte ich ihm das erklären?
,,Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll." hörte ich mich sagen. ,,Ich mein, irgendwie hatten alle Angst vor ihm und..." ,,Hat er dich gezwungen?" unterbrach Ron mich. ,,Nein, nein. Das nicht."

Ich dachte an unser Training zurück und daran, wie wir beide die Pillen geschluckt hatten. Und wie Eric mich auf der dünnen Trainigsmatte fixiert hatte...Auf einmal hatte ich seinen Geruch in der Nase, so intensiv, als wäre es er, der vor mir stand und nicht Ron. In meinem Hals saß ein dicker Kloß, den ich unmöglich herunter schlucken konnte. Wenn ich nur noch einmal an seiner Haut riechen könnte.
Oder sein Gesicht berühren. Nur ein einziges Mal.

,,Du mochtest ihn." Aus Rons Mund klang das wie eine simple Feststellung. Aber es war mehr. Da die VI beschlossen hatten, dass Eric eines ihrer nächsten Ziele war und ich ihm gegenüber offenbar Gefühle hegte, könnte ich den Plan vereiteln wollen. Ron senkte wissend den Kopf. ,,Du bist noch nicht lange dort weg. Würdest du mitkommen wollen?" ,,Du fragst mich, ob ich mitkommen will?" Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte. ,,Sieht ganz so aus."
Angestrengt dachte ich nach. Ich würde Eric wiedersehen und meine Rache wäre perfekt. Anderseits...was würden die VI mit ihm anstellen? Würden sie ihn vor meinen Augen töten? Wäre ich überhaupt stark genug, um mich von dem quälenden, inneren Schmerz nicht überwältigen zu lassen?

,,Werdet ihr ihn töten?" fragte ich und spürte eine eisige Furcht um mein Herz schleichen. ,,Das entscheide nicht ich." sagte Ron in ruhigem Ton. ,,Sondern die, denen er weh getan hat." Zu der Furcht an meinem Herzen gesellte sich Hoffnungslosigkeit. Wie hoch standen die Chancen für Eric am Leben zu bleiben, nachdem was ich gehört hatte?
Langsam schüttelte ich den Kopf. ,,Ich komme nicht mit." Meine Stimme klang mehr als gequält. Ron nickte und wandte sich zum Gehen. ,,Ich versteh das. Es wird hier noch eine Art Prozess geben. Du kannst dabei sein, wenn du willst. Manchmal ist es gut, Dinge abzuschließen."
Er ließ mich zurück und verschwand durch eine knarzende Tür in der Halle.

Alles in mir wollte schreien, aber ich schluckte nur. Hätte ich das gewusst, wäre ich doch lieber fraktionslos auf der Straße geblieben. Ich wollte nicht in einer Welt ohne Eric leben. Ich konnte nicht! Tränen schossen mir in die Augen und auf einmal sehnte ich mich mehr als alles andere nach meinem Zuhause. Nach dem Geruch von Ylang Ylang und Orchidee, wenn meine Mutter in ihrem weiß-glänzenden Morgenmantel das Badezimmer verließ. Die Tränen liefen in Strömen über meine Wangen und hinterließen eine salzige, brennende Spur auf meiner Haut.

Ich erinnerte mich an den Tag vor der Initiation, meine Eltern hatten Freunde eingeladen und wir saßen zusammen an einem gemütlich-gedeckten Kaffeetisch. Die Freunde meiner Eltern erzählten aufgeregt, wie es ihnen damals bei der Initiation ergangen sei und gaben mir haufenweise gut gemeinte, aber wenig nützliche Tipps. Später, als ich mit meiner Mutter allein war und mich über die vielen, unnützen Tipps aufregte, hatte sie nur verschwörerisch gegrinst und gemeint, ich würde schon selber herausfinden, zu welcher Fraktion mein Herz gehörte.

Auf einmal wusste ich genau, was zu tun war.
,,Mein Herz gehört nur mir." flüsterte ich leise.
Und ich würde die beschützen, die mir wichtig waren. Selbst wenn das hieß, dass ich die ganze Welt gegen mich hätte.

In der Nacht griffen die VI in mehreren Gruppen die Fraktionen an. Ich bekam keine Einzelheiten mit, nur hin und wieder traf ich Evan bei einer Runde um die große, alte Lagerhalle und er erzählte mir kurz, wie weit sie gekommen waren. Evan hatte sich freiwillig für die Wach und Kontrollposten per Funk gemeldet und weil er schon eine Weile da war und sich als würdig erwiesen hatte, hatte Ron ihn ins Team aufgenommen.

Während Evan also am Funkgerät alles mitbekam, lief ich wie ein Tiger gefangen zwischen den Wänden der Halle auf und ab. Meine Nervosität drehte Hurrikan-Runden in meiner Brust. Ich betete, dass sie Eric nicht gleich erledigen würden. Nach schier endlosen Stunden hörte ich dumpfe Jubelrufe, die durch die hohe Decke des endlos-wirkenden Raums wiederhallten.

,,Sie haben Sie! Sie haben beide! Coulter und Haywer!" Aufgebracht kamen einige VI, die im Lager geblieben waren, aus allen Richtungen des Raumes zusammen. ,,Sind sie tot?" fragte jemand. ,,Noch nicht.", antworte ein junger Mann, Aber sei versichert: wenn sie erstmal hier sind, entgehen sie ihrer gerechten Strafe nicht!" Er entdeckte mich in der Menge und kam direkt auf mich zu. ,,Das ist doch auch für dich gut! Endlich kannst du deinen Vater rächen und Ron wird sicher dafür sorgen, dass er in den nächsten Tagen frei kommt." Ich nickte wie betäubt und rang mir ein Lächeln ab.

Mein Vater würde frei kommen und Eric musste dafür sterben.
Das sollte gut sein?
Das sollte für mich gut sein?
Wie sollte ich die schützen, die mir etwas bedeuteten, wenn das hieß, dass ich einen von Ihnen opfern musste?

,,Gerechtigkeit beginnt mit Wiedergutmachung. Aber der Tod macht nichts wieder gut. Denn die Opfer müssen mit dem Schmerz leben und das für den Rest ihres Lebens!"

Überrascht richteten sich alle Augenpaare auf mich, noch ehe ich wusste, was ich da soeben gesagt hatte. Mein Puls bebte so heftig, dass ich meine Halsschlagader spürte. ,,Sie hat recht!" pflichteten mir einige VI bei. ,,Wir müssen damit leben, während die friedlich sterben. Die sollen so leiden wie wir!" Mehrere Stimmen wurden laut und unter den Menschen erkannte ich Jaide, die eifrig nickte. Wenn es mir nur gelänge, sie davon zu überzeugen...

Als ich meinen Blick weiter durch die Reihen schweifen ließ, wurde mir plötzlich heiß und kalt. Evan war auch da und seine Augen durchbohrten mich förmlich, sodass ich die Luft anhielt, als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen....

Ein bestimmter Tag XWo Geschichten leben. Entdecke jetzt