Eine bittere Wahrheit

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Im Halbdunkel der großen Lagerhalle standen sie im Kreis, Schulter an Schulter, die Köpfe teilweise in dunkelgrüne Tücher gewickelt, mit grünen Jacken, langen, dunklen Mänteln und Stiefeln.

Einige hatten auf die Rückseite ihrer Kleidung ein V mit einem darin eingeschlossenen I in weißer Farbe gemalt. Die Art wie sie dort standen, während Ron mit dunkler Stimme eine Ansprache hielt, ließ in mir Gänsehaut empor steigen. Ich hatte das Gefühl, dass sie eine Mauer bildeten, ein ungreifbares, starkes Gefühl, das sich aus Wut und Zugehörigkeit weit über ihre Köpfe in die Luft hangelte und eine schwere, bedrohliche Atmosphäre entfachte.

Ein Teil von mir wollte zu dieser Gemeinschaft gehören, dürstete nach bitterer, pechschwarzer Rache.
Aber da gab es noch den anderen Teil. Den Teil, der sich an Lara erinnerte. An Ivo, Caly und an...

Wütend über mich selbst biss ich mir auf die Lippen.
Warum dachte ich noch immer an ihn? Warum konnte ich ihn nicht einfach vergessen?
Evan hatte mir doch bestätigt, was ich ohnehin längst geahnt hatte. Ich war ein billiges Spiel. Ein Versuch. Eine Zeugin, die ihm gerade recht kam.
Und jetzt, wo ich jeden Freund gebraucht hätte, war ich ihm so egal...
Der Schmerz in meiner Brust wuchs und mit ihm auch Wut.

Ich wusste, dass ich mich damit abfinden sollte, dass die Ferox meine Vergangenheit waren. Und doch keimte in mir eine winzig-kleine Hoffnung, dass ich Eric nicht egal war.
Dass er mich suchen würde.
Dass er nicht aufgeben würde.
Bis dahin musste ich mich mit dem neuen Leben bei den VI arrangieren. Hätte ich doch nur geahnt...

Ich spürte Rons Blick auf mir ruhen und trat zögernd in den großen Kreis. Die vermummten Gesichter links und rechts von mir nickten mir zu und machten mir leise Platz.

,,Unsere Stärke ist unsere Wut." hörte ich Ron leise sagen. ,,Das dürfen wir nicht vergessen. Das, wofür wir kämpfen, ist ein System außerhalb des Systems. Die Wahrheit, nämlich dass es Menschen gibt, für die die da draußen keinen Platz haben, wird uns anführen. Hier sind alle willkommen. Hier dürfen wir sein, wer wir sind, ohne uns entscheiden zu müssen, ohne die Begrenzung, auch morgen und übermorgen und in zehn Jahren das zu sein, was uns das System vorgibt."

Seine Stimme wurde beträchtlich lauter. ,,Hier gibt es die Sicherheit, die es da draußen nie geben kann!" Die Menschen klatschten und streckten geballte Fäuste in die Luft. Rons Blick wanderte durch den Kreis und blieb schließlich an einer Frau mit gewellten, roten Haaren hängen. ,,Jaide, erzähl es Ihnen."

,, Mein Name ist Jaide..." begann sie. ,,Ich war eine Ken bevor ich zu den Amite wechselte. Es gab einen Ausbilder bei uns im Stadtteil. Er sollte die Kinder schon früh trainieren, damit sie starke, durchsetzungsfähige Fraktionsmitglieder werden würden. Erstbildung nannten Sie das. Ich war noch ein Kind."

Sie rang nach Fassung. ,,Sein Name war Gideon Coulter. Er hatte auch einen Sohn, Eric.
Wenn eines von uns Kindern nicht schnell oder geschickt genug war, strafte Gideon es. Wir wurden in dunkle Keller gesperrt oder mussten stundenlang mit nackten Knieen auf einem Schotterweg in einem verlassenen Firmengelände knieen. Manchmal wies Gideon seinen Sohn an, ihm zu helfen, während er uns strafte. Ich fiel oft aus der Reihe. Ich war zu laut, zu eigensinnig, zu anders. Bei dem Test kam heraus, dass ich eine Unbestimmte bin. Aus Furcht versuchte ich mein Glück bei den Amite. Doch die Wut in mir war so groß. Sie war zu groß, um sie so lange verstecken zu können. Man stempelte mich als Problem ab und schließlich wurde ich fraktionslos. Ich war den Schikanen der Ferox-Soldaten ausgesetzt. Aber auch einige der Ken-Kinder fanden mich und erkannten mich wieder. Es gab keinen Zusammenhalt. Gideon hat aus ihnen die perfekten, eiskalten Marionetten gemacht. Und sein Sohn ist genauso schlimm wie er."
Ihre Stimme brach weg.

,,Wir fanden Jaide mit offenen Wunden und blauen Flecken, die ganz offensichtlich von Schlägen und Messern stammten. Auf unserem Weg zurück in unser Hauptquartier wurden wir ebenfalls von Ferox-Soldaten angegriffen. Es waren dieselben, die Jaide zuvor misshandelt hatten. Ihr Anführer, Eric Coulter, war nicht dabei. Er ist unsere nächste Zielperson, zusammen mit Keith Haywer von den Ken, der maßgeblichen an der Verschwörung gegen Ansgar Radall beteiligt ist."

Ich spürte, das meine Beine zitterten wie Espenlaub. Mühsam versuchte ich, aufrecht zu stehen, aber es war, als würde eine unsichtbare Kraft mich mit aller Gewalt zu Boden ziehen. Wankend legte ich meine Arme fest um meinen Körper, während mein Kopf im Blitzlichtgewitter Erics Gesicht vor meinem geistigen Auge vorbei ziehen ließ.
Er....ich....
Er hatte...
Er war....

Das Blut in meinen Ohren rauschte so schrill, dass ich den Kopf schüttelte. ,,Hey! Ist alles okay?" hörte ich jemanden wie aus weiter Ferne fragen. Ich nickte reflexartig, aber nichts, überhaupt nichts war okay.
Ich hatte nichts über Gideon Coulter gewusst. Und nichts darüber, welche Wahrheit Eric verbarg. Und Caly? Hatte sie mich angelogen? Wusste sie das hier? Warum hatte sie es nicht gesagt?
Eric war ein Scheiß-Monster.
Ich hatte ihm geglaubt. Ich hatte geglaubt, Lara würde sich irren.
Ich hatte mit ihm...

Mir wurde schwindelig. Und der Schmerz in meiner Brust kehrte zurück. Größer und stärker als je zuvor.

Das Gefühl, zum zweiten Mal verraten worden zu sein und das von Menschen, denen ich vertraut hatte, wuchs ins Unermessliche. Nicht nur, dass die Fraktion, an die ich geglaubt hatte, mir in den Rücken gefallen war, das System hatte auch noch meine Familie zerstört. Anstatt mich zu schützen, wäre ich fraktionslos auf der Straße, wenn die VI nicht wären. Von einer Sekunde auf die andere hatte ich alles verloren. Ich wusste nicht einmal, wie es meiner Mutter ging und ob mein Vater im Gefängnis war.
Eigentlich wusste ich gar nichts mehr.

Nachdem Jaide ihre Geschichte erzählt hatte, ware auch noch andere Mitglieder mit ähnlichen Geschichten zu Wort gekommen.
Verzweifelt versuchte ich, ihnen zuzuhören, doch in mir tobte ein Sturm aus Emotionen.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, stand plötzlich Evan an meiner Seite und legte eine Hand auf meine Schulter. ,,Lass uns kurz raus gehen..."

Wir traten vor die Tore der Halle und eine klare, kalte Brise streichelte mein Gesicht. Ich hielt für einige Sekunden die Luft an und atmete dann geräuschvoll aus. ,,Du bist blass." sagte Evan und fischte aus seiner Jackentasche eine Zigarette. Er zündete sie an und nahm einen Zug. Ich wusste nicht, wie ich all das formulieren sollte, was mir gerade durch den Kopf ging, darum schloss ich die Augen und versuchte, mich auf eine Sache zu konzentrieren. Evan kam mir zuvor. ,,Da war was. Zwischen dir und ihm oder? Es ist ja nicht so, dass wir das nicht mitbekommen hätten. Die Einzeltrainings, dass du plötzlich woanders untergebracht warst..." Ich schluckte schwer. ,,Ich habe es irgendwie nicht glauben können." sagte ich. ,,Ich und er- das war irgendwie so surreal. Wie das hier. Ich weiß, Lara hat mich gewarnt. Aber ich wollte nicht auf sie hören. Ich dachte, dass da noch etwas anderes wäre, dass er hinter dieser kalten, harten Fassade versteckt." Evan inhalierte den Rauch seiner Zigarette. ,,Ich wünschte, ich könnte dich verstehen. Aber ich hab nur eines in ihm gesehen: das Arschloch, dass er vom ersten Tag an war."

,,Und was ist mit Fenja?" Evan schwieg. ,,Und was sollte dein Plan, Erics Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, damit du bei Fenja landen kannst?"
,,Das war vor dem hier, Alexis. Woher sollte ich wissen, dass sie uns anlügen? Dass wir nicht bei den Fraktionen bleiben, die uns die Initiation vorgibt, weil das System brüchig ist und von seinen eigenen Mitgliedern verraten wird? Außerdem hätte ich nie im Traum geglaubt, dass zwischen dir und Eric etwas laufen würde. Alle hatten Angst vor ihm und das zurecht. Alle außer dir!"

,,Was willst du damit sagen?" Meine Stimme zitterte nun genauso wie die von Jaide Minuten zuvor.
,,Ich weiß nicht. Vielleicht bist du einfach zu gutgläubig. Oder Eric hat dich geblendet. Mit was auch immer. Er wird niemals der Prinz auf dem weißen Ross sein, den du in ihm sehen willst. Er ist ein Killer. Noch dazu ein sadistischer, skrupelloser. Krieg das in deinen Schädel!"

Wie ein begossener Pudel stand ich da, mit hängenden Armen und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wollte schreien, aber kein Ton verließ meinen Mund. Zu allem Überfluss wusste ich, dass Evan recht hatte.
Er hatte recht.

Eric war nicht das, was ich in ihm hatte sehen wollen. Auch, wenn Caly mir Hoffnung gemacht hatte- die Wahrheit war nicht bitter, sondern messerscharf.

Und dieses scharfe Messer steckte gerade sinnbildlich senkrecht in meiner Brust.

Ein bestimmter Tag XWo Geschichten leben. Entdecke jetzt