Gerechtigkeit

91 3 0
                                    

,, Menschen wie Coulter...." rief Evan laut ,, haben den Tod verdient. Sie am Leben zu lassen wäre ein zu großes Risiko für unsere Gemeinschaft."
Evan wusste, was ich vorhatte, dessen war ich mir sicher.
Wieder spürte ich kalte, klamme Angst in mir empor steigen.

,,Kaum kehrt man Ihnen den Rücken, fuhr Evan fort, zücken sie ihr Messer! Für die gibt es keine zweiten Chancen. Für die gibt es nur tot oder lebendig." Einige der VI raunten zustimmend, andere warfen mir erwartungsvolle Blicke zu. Ich suchte verzweifelt nach Worten. Was sollte ich Evan entgegen setzen? Was würde die mutige Alexis sagen? Die, die ohne zu zögern auf die Ferox geschossen hatte, um Eric zu beschützen?

Je länger ich schwieg, umso größer wurde der Druck, etwas sagen zu müssen. ,, Ich finde, diese Entscheidung sollten wir uns für die Verhandlung aufheben." mischte sich eine dunkelhäutige Frau mit lockigen, schwarzen Haaren ein. ,,Da hängen noch mehr von uns dran."
Erleichtert und zugleich schrecklich verunsichert nickte ich. Doch mir blieb keine Zeit, weiter daran zu denken, was die anderen wohl entscheiden könnten. Das Brummen vieler Motoren vor der Halle wurde laut und die VI stürmten aufgeregt auseinander. ,,Sie kommen!"

Mit ruhigen und bedachten Schritten lief Ron um die zwei Stühle, die in der Mitte der Halle positioniert waren. Auf den Stühlen saßen mit schwarzen Augebinden und nach hinten geketteten Händen die zwei Gefangenen. Erics Haltung war lässig, aber ich konnte die Unsicherheit sehen, die über sein Gesicht kroch, wie unzählige kleine Käfer.
Es tat weh, ihn wiederzusehen und gleichzeitig hätte ich vor Freude die ganze Halle zusammenbrüllen können. Ich wusste nicht, welches Gefühl stärker war.

,,Ihr wisst, warum ihr hier seid." Rons Stimme durchschnitt die angespannte Atmosphäre und hallte von den langen, großen Wänden des Gebäudes wieder. ,,Ihr habt Rechnungen offen und euch entschieden, nicht zu bezahlen. Stattdessen haben andere für euch bezahlen müssen. Einen höheren Preis. Also wird es einen Prozess geben." Keith lachte verächtlich. ,, Prozess? Für wen haltet ihr euch? Euch wird eure Selbstgerechtigkeit schon noch vergehen, wenn ihr bei den Ken auf eure Hinrichtung wartet."

Ron lächelte amüsiert. ,,Tut mir leid, dass ihr falsch informiert seid. Ich denke, in letzter Zeit gab es einige Maulwürfe innerhalb der Fraktionen, die die Dinge ein bisschen gedreht haben. Aber da ihr jetzt vorort seid, können wir euch gern erklären, wie es ab jetzt läuft." Keith schwieg.
,,Der Mist, den euer System verzapft hat, hat Menschen getroffen, die bei euch Schutz gesucht haben. Fraktionslose, Unbestimmte, Verbannte. Und aus einer kleinen Gruppe ist ein Bienenstock geworden." Er machte eine Pause.
,,Ihr dachtet wohl, alle würden es hinnehmen. Ihr dachtet, ihr könntet so leben ohne dass es euch eines Tages einholen würde. Ihr seid erbärmlich."

,, Erbärmlich ist, dass ihr glaubt, ihr kommt damit durch." Bei dem Klang von Erics Stimme zuckte ich zusammen. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Warum gab er es nicht zu? Warum gab er nicht zu, was er getan hatte?
Ron winkte zwei VI heran und bedeutete ihnen, den Gefangenen die Augenbinden abzunehmen.
,,Sehet und staunet." kommentierte er wie ein Showmaster. Eric blinzelte und unsere Blicke trafen sich innerhalb von Sekunden. Ich sah Schreck und Schmerz in seinen Augen, etwas völlig Fremdes, das ihn wie eine andere Person wirken ließ.

,,Das wird euch teuer zu stehen kommen!" rief Keith. ,,Euch ALLE, verdammt!" Seine Augen wanderten unruhig über die Menge, dann blinzelte er und bedachte Ron mit einem hasserfüllten Blick. ,,Der Robin Hood der Fraktionen...dachtest du wirklich, du könntest es mit uns aufnehmen? Mit uns? Sie sind längst alle auf dem Weg hierher. Das wird ein Gemetzel."

Ron antwortete nicht. Er drehte sich zu den VI um. ,,Wer von euch plädiert für nicht schuldig?" Niemand hob eine Hand. Der ganze Trupp schien einzig und allein auf die nächste Frage zu warten. ,,Und wer von euch plädiert für schuldig?" Alle Hände gingen als Faust geballt nach oben. Ron nickte.

Aus den Reihen drängten sich zwei VI mit verhüllten Gesichtern nach vorne. Keith's Augen wurden groß. ,,Nein!" rief er erschrocken. ,,Neinneinnein." Einer der vermummten VI zog eine Waffe hinter seinem Rücken hervor und drehte seinen Kopf zu Ron. Der hob seine Faust ebenfalls in die Luft. ,,Schuldig!" brüllte er durch die Halle und inmitten seines Schrei's fiel ein Schuss.

Keith's Kopf war nach vorne gekippt. Auf seiner Stirn prangte ein rotes, blutüberströmtes Loch, seine Augen waren leblos auf den Boden gerichtet. Die Menge um mich herum jolte.
Ängstlich wanderte mein Blick zwischen Eric und dem bewaffneten VI hin und her. Ich überlegte fieberhaft, wie ich den Todesschützen am besten ablenken konnte, damit sein tödlicher Schuss nicht das nächste Ziel traf.

Währendessen brachte Ron die VI zum Schweigen. ,,Eric Coulter, Sohn von Gideon Coulter." sagte er ruhig.
,,Manche von meinen Leuten kennen deine beeindruckende Biografie ganz genau." Er machte eine Pause. Gerade, als er ansetzen wollte, die Menge das Gleiche zu fragen, wie zuvor bei Keith, wurde es unruhig.

,,Ich will, dass er leidet!" rief eine weibliche Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes. Die Menschen traten auseinander und machten einer kleinen Gruppe VI Platz, an deren Spitze Jaide nach vorne lief. ,,Ron, ich will dass er leidet, wie ich gelitten habe, wir alle hier!" Die Gruppe positionierte sich in einer Reihe vor Eric. ,,Wir alle kennen ihn." zischte Jaide. Ihre Augen glänzten schier wahnsinnig.
,,Ihr wollt, dass Coulter lebt?" rief jemand aus der Menge und ich spürte, wie sich alles in mir vor Anspannung verkrampfte. Jaide drehte sich nach hinten, zu den Menschen um. ,,Wir wollen, dass er sich wünscht, er wäre tot!"

Eric ächzte, als sie ihn vom Stuhl hoben und ihn mit gefesselten Händen auf den Boden fallen ließen. Die Gruppe schloss sich wie eine Traube um ihn und begrub ihn in einer Mitte aus Schlägen und Tritten. In mir meldete sich der Zwiespalt zurück.
Ich dachte an das, was sie über Eric erzählt hatten, das, was Jaide widerfahren war, wie kaltblütig Eric auf Menschen schoss und wie einfach er mich im Nichts zurückgelassen hatte. Er hatte ihren und auch meinen Hass verdient.

Dennoch war da auch die leise Stimme in mir, die Eric noch immer retten wollte, die nicht aufhören konnte, etwas in ihm zu sehen, dass andere nicht erkennen konnten.

Ich rang mit mir, zwischen all dem, was vorgefallen war, ein Gefühl zu finden, an das ich mich klammern konnte, wie an einen Rettungsanker. Etwas, dass all die finsteren Stürme in mir zum Schweigen brachte. Wie eine Insel, die in dem Meer aus Angst und Unsicherheit unmittelbar vor mir auftauchte. Doch was ich auf dieser Insel fand, war etwas, dass mir überhaupt nicht gefiel. Denn es waren nicht die VI, die mir dieses Gefühl gaben, nachdem ich suchte. Es war auch nicht die Aussicht auf Rache.

Egal, wie sehr ich versuchte, das Gefühl zu verdrängen, es schob sich immer wieder unermüdlich und stärker nach vorne.

Wie kaputt kann man sein? dachte ich bitter.
Und mir wurde klar, dass es genau die Person war, die mich verraten hatte, von der ich Dinge erfahren hatte, die meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet hatten, um die sich das Gefühl drehte.
Evan hatte recht. Ich war dumm. Vielleicht sogar krank.
Tränen schossen mir in die Augen.

Die Insel, das Gefühl, das Einzige, was wie ein Leuchtturm in einer finsteren Wand aus Sturm und Meer vor mir prangte, war der Gedanke an Eric.

Und Eric war im Begriff für den Rest seines Lebens bis zu seinem Tod gefoltert und für seine Vergehen bestraft zu werden von der Fraktion, der ich nun angehörte.

............................................................................

Huhu,
ich grüße alle Leser und hoffe, ihr hattet ein frohes Weihnachtsfest.
Ich freue mich wahnsinnig über jeden einzelnen Read und danke euch, dass ihr bis hierhin dran geblieben seid.
(Vor allem: der Hype ist zwar vorbei, aber es gibt noch immer Eric-Coulter- Fans da draußen *-* haaach)

Ganz liebe Grüße
xXSascha

Ein bestimmter Tag XWo Geschichten leben. Entdecke jetzt