Wut und Opfer

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Sie hatten Eric an den Rand der Bewusstlosigkeit geprügelt und ich stand dort wie in Trance und fühlte mich von unsichtbaren Ketten umgeben. Jeder Versuch, ihm zu helfen, war wie ein Tanz auf der Schneide eines Messers.
Ron wusste zwar, das etwas zwischen mir und Eric gelaufen war. Aber er hatte keine Ahnung, wie viel es mir bedeutete. Und selbst wenn- wäre es ihm egal. Dass Eric am Leben geblieben war, war reines Glück. Hätte Jaide sich anders entschieden, würde auch er mit einem Loch in der Stirn leblos auf dem Stuhl hängen.
Die Lage war aussichtslos.

,,Was geschieht jetzt mit diesem Dreckschwein?" fragte jemand aus dem Trupp, den Jaide um sich geschart hatte, laut. ,,Wir sperren ihn ein und foltern ihn. Jeder von euch ist mal an der Reihe." Sie blickte suchend durch den Raum, bis sie mich entdeckt hatte. ,,DU! Du auch. Schließlich kam der hübsche Vorschlag von dir!"
Mir wurde heiß, als sich alle Augenpaare auf mich richteten, auch die von Ron. Sein Gesicht wirkte steinern, doch ich konnte spüren, dass es in ihm arbeitete.
Er hob eine Hand und winkte mich zu sich. ,,Ich möchte den neuen Mitgliedern zuvor ersteinmal etwas zeigen."

Vor der Halle waren etliche, schwarze Motorräder geparkt. Auf einigen prangte an der Seitenverkleidung aus Metall wieder das weiße Zeichen der VI. ,,Ich möchte euch jemanden vorstellen." Ron legte eine Hand auf die Schulter eines Mannes, der in tarnfarbene Tücher gewickelt war. Obwohl ich sein Gesicht nicht kannte, kam er mir bekannt vor und es dauerte einige Sekunden, bis ich mich erinnerte.
,,Das ist Darren." Darren war schätzungsweise über 40, hatte einen leichten Kinnbart, dunkelbraune Augen und eine kleine Stubsnase. An seinem linken Oberarm prangte ein Tattoo in Form eines pechschwarzen Jaguars. Als ich das olivgrüne Tuch sah, dass er um den Hals gewickelt trug, schoss mir blitzartig die Erinnerung durch den Kopf. Darren hatte auf uns geschossen, als ich mit Caly in der Stadt gewesen war. Der vermummte Motorradfahrer- das war er!

,,Darren sammelt Fraktionslose und Unbestimmte von der Straße auf. Manchmal befreit er sie auch, wenn sie in Schwierigkeiten sind." Darren nickte und seine Augen glitten wachsam über den kleinen Trupp neuer VI. ,,Heute dürfen einige von euch ihn bei seiner Tour begleiten. Alle anderen werden hier vorort Aufgaben übernehmen."

Ich hatte erwartet, dass sich einige darüber beschweren würden, vorort bleiben zu müssen. In meinem Kopf waren wir immer noch alle Initianten.
Obwohl manche von ihnen sicher schon lange Zeit als Fraktionslose lebten...
Dieses Wort war ein grausamer Stempel. Einer, der einem bedeutete, dass man nicht dazu gehörte. Dass das System nichts für einen tun konnte.

Ron rief einige Unbestimmte nach vorne, dann einige jüngere und einige ältere Leute. ,,Ihr werdet Darren begleiten. Wir haben mehrere, große Trucks organisiert, in denen ihr mitfahren könnt. Viele von euch kennen das Prozedere ja bereits. Die von euch, die nicht mitfahren, treffen sich in der Lagerhalle bei Arrie. Sie wartet schon."

Ich wollte mich gerade umdrehen und den anderen wieder zurück in die Halle folgen, da hielt mich jemand an der Schulter fest. ,,Du nicht, Alexis. Für dich habe ich eine andere Aufgabe."
Ron lächelte. ,,Es wird an der Zeit, deinen Vater zu befreien. Die Lage ist ernst. Offensichtlich haben die Ken vor, ihn morgen hinrichten zu lassen. Deine Mutter hält sich versteckt, leider konnten wir bisher nicht herausfinden, wo."
Ich stockte und nickte angestrengt.
,,Zora aus unserem Außenteam wird dir ein paar Dinge zeigen und erklären. Es ist wichtig, dass du dabei bist. "

Ron führte mich zu einer kleinen Gruppe VI, die mit schweren Waffen vor einer Reihe weiterer, geparkter Motorräder standen. ,,Das sind unsere besten und erfahrensten Kämpfer. Auch einige ehemalige Ferox." Er nickte einer dunkelhäutigen Frau zu und ich erkannte ihr Gesicht. Das war dieselbe Frau, die bei der Diskussion mit Evan gesprochen hatte. ,,Hi ich bin Zora. Ich leite den Trupp. Du musst Alexis sein. Wir haben uns ja drin kurz gesehen."
Sie lächelte aufmunternd, nur war mir überhaupt nicht nach Lächeln zumute. Ich hatte Angst. Angst um meinen Vater. Angst um Eric. Angst, dass etwas schief gehen würde.
,,Wir befreien heute Ansgar Radall. Er ist der Vater dieses Mädchens und ein enger Verbündeter. Er hat viel für die VI getan und damit eine Menge riskiert, so wie wir alle. Die Teams teilen sich in drei Gruppen auf. Späher, Front und Nachut. Das Mädchen Alexis bleibt bei mir, wir laufen mit der Front."

Die VI stiegen auf die Motorräder und starteten die Motoren. Zögernd ließ ich mich auf dem Sitz hinter Zora nieder. ,,Halt dich gut fest." raunte sie und trat aufs Gaspedal.

Es war totenstill in dem geräumigen Lagerkeller des riesigen Hochhauses. Die VI bewegten sich nahezu geräuschlos. Der Gang war so schmal, dass der Trupp sich in zwei Reihen parallel zueinander bewegte.
Zoras Funkgerät knackte, als sich eine männliche Stimme meldete. ,,Mehrere Ferox an den Außenposten 1,2 und 5. Zusätzlich Videoüberwachung und Kontrollgänge. Wir haben euch eine Route gelegt." Zora kniff angestrengt die Augen zusammen. ,,Was habt ihr noch?" fragte sie zurück, das kleine, schwarze Plastikgerät dicht an ihren Lippen. ,,Der Zielraum ist abgeschirmt. Wir haben noch keinen Überblick, was sich darin außer Radall befindet." ,,Alles klar." antwortete Zora postwendend.

Ein fürchterlicher Knall hallte durch die Gänge und die Front bestehend aus einigen VI wurde mit voller Kraft zurückgeschleudert. Ich kapierte erst, was diesen Knall ausgelöst hatte, als mich der schwere Arm eines Mannes traf und ich das aufgerissene Fleisch seitlich an seiner Hüfte sah. Panisch rappelte ich mich auf. Zora brüllte den VI Befehle zu, während sie mich hinter sich drängte, um mich vor den Schüssen der Ferox abzuschirmen. Ein zweiter Knall ertönte, diesmal auf der gegnerischen Seite. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ungläubig starrte ich auf das verwüstete Bild, das sich mir bot. Der Mann mit der aufgerissenen Seite lag nur wenige Meter hinter mir am Boden und stöhnte vor Schmerz. Vor ihm, an der Wand lag ein weiterer VI, der sich nicht mehr rührte. Und da war Blut. So viel Blut.

,,Schnell." hörte ich Zora dicht neben meinem Ohr sagen.
Sie hob die Hand und gab einem kleinen Trupp, der aus einem völlig verrauchten, zerstörten Raum vor uns im Gang kam, ein Zeichen. Ich wusste nicht mal, auf welcher Ebene wir ins inzwischen befanden und was mit den verletzten VI geschehen würde. Um mich herum herrschte Chaos.

Direkt neben meiner Wange krachten Kugeln in die Wand. Zora hatte einen Arm um mich gelegt und lotste den Trupp durch das Gebäude nach draußen. Es fühlte sich an, als wäre ich im falschen Film, als wäre das hier nicht real, sondern wiederum eine Angstwelt, nur, dass ich nicht wusste, von wem. Und wenn es so war?
Mir blieb keine Zeit, weiter drüber nachzudenken. Die VI stürmten links und rechts von mir aus dem Gebäude, während Zora mich noch immer schützend von dem unaufhörlichen Kugel-Hagel abschirmte.
Blitzartig tauchte ein Gesicht vor meinem inneren Auge auf und verzweifelt versuchte ich, in dem Durcheinander jemanden zu erkennen.
Aber egal, in welche Richtung ich blickte- mein Vater war nirgends zu sehen.

Ich hatte mich den gesamten Rückweg auf dem Motorrad an Zora geklammert. Mir war egal, was sie dachte. Ständig erinnerte ich mich an die leblosen Körper der VI und das viele Blut. Vielleicht hatte dort auf dem Gang auch mein Vater gelegen...

Ron hatte eine Versammlung einberufen, als wir das Lager erreichten und sichtlich angespannt bat er Zora, den VI zu berichten, was sich zugetragen hatte.
,, Für unsere Wut müssen wir Opfer bringen." Zoras Stimme klang weich und zerbrechlich, während sie mit hängenden Schultern in der Lagerhalle langsam auf und ab lief. Ihre Haltung war stolz, aber zugleich wirkte sie unendlich traurig, obwohl sie ihre Emotionen mit Anstrengung zurück hielt. ,,Wir haben Menschen verloren. Starke, ehrliche Kämpfer und treue Freunde. Sie haben mit ihrem Leben dafür bezahlt, dass andere ihres behalten konnten."
Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung in der Menge wahr. Ein VI drängte sich nach vorne und plötzlich wurde es mucksmäuschenstill.
Mein Schrei hallte aus allen Ecken, ohne jede Hemmung stürzte ich los. Wut, Trauer und Erleichterung brachen über mich herein wie eine Sturzflut.
,,DAD!"

Ansgar Radall war zwischen den versammelten VI nach vorne getreten und öffnete seine Arme, in die ich weinend fiel. Eine Schwere, die auf meinem Herzen gelegen hatte, sank wie eine Feder zu Boden. Ich wollte ihm alles erzählen. Was bei den Ferox passiert war, wer Eric war, wie ich Fraktionslos wurde...doch ich brachte nur einen Satz heraus. ,,Wo....ist...Mom?"

Ein bestimmter Tag XWo Geschichten leben. Entdecke jetzt