Ein bestimmter Tag X

Unerwartet

Dad strich mir beruhigend über den Kopf, bevor er mit kräftiger Stimme sagte: ,,Ich danke euch allen. Ich verdanke euch mein Leben, mehr denn je. Nachdem ich Sarah, eine mutige und unerschrockene Amite, befreit hatte, um sie zu euch zu bringen, wurden wir von einer Truppe Ken abgefangen. Sie hat es leider nicht geschafft." Ich spürte, dass er zitterte. ,,Ich weiß, wie viel ihr riskiert habt, wie viel ihr jeden Tag riskiert, gegen das System."
Es brauchte einige Sekunden, ehe seine Worte bei mir ankamen. Sarah, die Amite- das war nicht die Geliebte meines Vaters?

Er hatte Mom nie betrogen.
Es war nicht so, wie ich angenommen hatte.
Plötzlich ergab alles einen Sinn.
Warum Dad immer so streng auf alles achtete, warum er sich ständig zurückzog, warum ich geglaubt hatte, meine Eltern würden sich trennen...
Erschrocken sah ich zu ihm hoch.
,,Was hat das zu bedeuten?" platzte ich mitten in seine Rede, obwohl ich es bereits wusste.
Meine Eltern hatten mich belogen.
Wütend und verwirrt trat ich zurück und stürmte in die Menge versammelter VI, um in dem Meer dunkler Kleidung zu verschwinden. Mein Vater rief meinen Namen, aber ich hielt nicht an. Das Gefühl, schon wieder verraten worden zu sein, kroch in mir empor und bohrte mit messerscharfen Klingen in meine Wunde.

Zwischen den vermummten Gesichtern tauchten Jaides rote Locken auf und als sie mich erkannte, streckte sie den Arm aus und griff schmerzhaft in meine linke Schulter. ,,Alexis. Was zum Teufel hattest du mit Coulter zu tun? Er sagt, er will mit dir reden. Nur mit dir. Und es sei dringend."
Die Menschen um mich herum hielten den Atem an. Ich schluckte mühsam. Jaide schüttelte mich ungeduldig und ihre Augen bohrten sich eiskalt in mein Gesicht. ,,Antworte!" zischte sie.
,,Weiß nicht. Keine Ahnung, was er von mir will!" verteidigte ich mich. Jaide sagte nichts mehr, aber ich konnte sehen, dass sie mir nicht glaubte.

Zögernd folgte ich ihr durch einige Räume, die direkt an die Halle grenzten, hinunter in einen kühlen, muffigen Kellerbereich. In einer Art Käfig, die ein kleines Stück mit Fenster vom Keller abgrenzte, saß Eric mit nacktem Oberkörper, den Rücken an den Gitterzaun gelehnt. Sein Gesicht war geschwollen, sein linkes Auge vollkommen zu und Blut klebte ihm auf Nase und Lippe.

Ich hätte ihm alles gewünscht. Denn er hatte mich im Stich gelassen, als ich ihn am meisten brauchte. Aber sein Anblick hielt meine Wut in Schach und obwohl ich mir alle Mühe gab, es zu verbergen, tat es weh, ihn so zu sehen.

,,Also du und Coulter- was verbindet euch?" holte Jaide mich unsanft in die Wirklichkeit zurück. Eric röchelte. ,,Rede, Radall!" Jaide wurde ungeduldig und schloss mit einem Klicken die Tür auf. ,,Vielleicht erzählt er mir ja, was zwischen euch war..." ,,Nein, warte..." Ich blickte zwischen Eric und Jaide hin und her. Ich konnte ihr die Wahrheit nicht sagen. Ich konnte nicht.
Damit würde ich alles riskieren. Mein Vater würde wie ein Idiot dastehen und mich würden sie verstoßen oder foltern oder schlimmeres.
Dass Ron wusste, was zwischen uns gewesen war, war keine Erleichterung. Jaide war anders. Gefährlicher. Radikaler.
Und sie hatte einen starken Antrieb mit der Geschichte, die sie letztendlich zu den VI brachte.

,,Wir...waren...befreundet." stammelte ich, erschrocken darüber wie unglaubwürdig das klang. ,,Achso? Scheint ja ne richtige gute Freundschaft gewesen zu sein. Immerhin endete sie in lebenslanger Folter. Das ist doch das, was man jedem Freund wünschen würde, nicht?" Jaide schlug ihre Hand bedrohlich laut gegen das Gitter und Eric zuckte zusammen. ,,Stopp!" hörte ich mich wütend sagen. ,,Was soll das werden? Ein Verhör? Bin ich jetzt angeklagt, nur weil ich etwas mit ihm zu tun hatte? Dann könntest du jeden ehemaligen Ferox anklagen!" Jaide verzog die Augen zu schmalen Schlitzen. ,,Es ist doch offensichtlich, dass ihr gemeinsame Sache macht. Wer weiß schon, ob du nicht vielleicht eine Ken bist, die uns alle verraten wird?!" Eric fiel ihr halb ins Wort und murmelte etwas unverständliches. ,,Ach, hast du etwa auch was dazu zu sagen, Schätzchen?"