Kapitel 32

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Hör nie auf zu zweifeln, wenn du keine Zweifel mehr hast, dann nur, weil du auf deinem Weg stehengeblieben bist.

Ich sitze schon seit Stunden auf meinem Bett und sah aus dem Fenster.
Langsam erhob ich mich, versuchte das Fenster zu öffnen, scheiterte aber daran.
Es hatte angefangen zu regnen.
Leise lauschte ich dem Regen, wie er gegen die Scheibe prasselte.
Hier hatte sich nichts verändert.
Alles stand noch an seinem Platz.
Mein Blick schweifte zur Uhr.
19.24 Uhr.
Mein Magen knurrte, aber ich würde dieses Zimmer nicht verlassen.
Meine Eltern konnten mich nicht erreichen, da ich mich eingeschlossen hatte.
Aber wenn ich hier nochmal rauskommen will, muss ich mich der Konversation stellen.

Lass die Angst nicht dich kontrollieren, sondern du sie.

Ich hörte ganz genau Avery's Stimme in meinem Kopf, als würde sie direkt neben mir stehen.

MACHEN.
Nicht grübeln, nicht faseln, einfach machen.
Im schlimmsten Fall wird's eine Erfahrung.

Wild entschlossen schloss ich die Zimmertür auf und ging die Treppen runter in das Wohnzimmer.
,,Ich habe dir gesagt, du sollst sie aus diesem verdammten Zimmer holen!
Wir werden es ihr jetzt sagen und du wirst jetzt hochgehen und..."
Im Türrahmen verharrte ich.
Mein Vater hatte meine Mutter am Arm gepackt, wie mich zuvor.
Ich hegte den kurzen Verdacht, dass mein Vater gewalttätig zu meiner Mutter ist.
,,Dad!
Ich bin hier.
Lass sie los"
sammelte ich meinen Mut zusammen und unterdrückte ein schluchzen.
Wie in Zeitraffer drehte sich mein Vater um, kam zu mir und nahm mich in den Arm.
,,Gott sei Dank"
murmelte er.
Aber ich wusste, dass das alles nur Fassade war.
Er schob mich behutsam zum Sofa und setzte sich gegenüber von mir.
Die Hände hatte er im Schoß gefaltet.
Meine Mutter holte ein paar Kekse und ein Glas Milch aus der Küche, aber ich rührte nichts davon an.
Als meine Mutter sich neben mich gesetzt hatte, begann mein Vater endlich die Karten auf den Tisch zu legen.
,,Wir wollen, dass du von nun an, von zuhause, unterrichtet wirst.
Jaiden und deine Freunde haben einen schlechten Einfluss auf dich und wir wollen, dass deiner Bildung nichts im Wege steht"
,,Das ist nicht wahr.
Jaiden hat mir ein zuhause gegeben, dass was ihr niemals tun werdet.
Niemand hat einen schlechten Einfluss auf mich.
Dass einzige was euch wirklich interessiert, ist die Kanzlei.
Und ich muss euch leider enttäuschen.
Denn ich werde die Kanzlei niemals übernehmen.
Es mag vielleicht euer Wunsch sein, aber nicht meiner.
Schon immer habe ich nur das getan, was ihr wolltet.
Es ging immer nur um euch.
Nie war ich eure Tochter.
Ich war nur jemand, der auf Knopfdruck das tun musste, was euch gerade in den Sinn kam.
Die Maxwells sind meine Familie.
Ich habe mich für sie entschieden"
sagte ich beruhigt langsam.
Meine Mutter fing an zu weinen.
,,Oh Gott! Ich sag es ihr endlich"
sagte sie mit erhobener Stimme.
,,Nein, warte noch"
hielt sie mein Vater zurück.
,,Egal was es ist, schlimmer kann es nicht mehr kommen"
,,All die Jahre, in denen wir dich so behandelt haben, hatte einen Grund.
Es gibt vieles, was du noch nicht weißt.
Aber fangen wir mit etwas Einfachem an.
Wir haben dich von uns gestoßen, weil wir dich schützen wollen und es immer noch tun"
Jetzt verstand ich gar nichts mehr.
Auf meiner Stirn bildete sich ein großes Fragezeichen.
,,Vor wem denn beschützen?"
hakte ich nach.
,,Eins nach dem anderen.
Auf dem Internat warst du sicher, bis Jaiden auftauchte.
Wir wissen mehr, als du denkst und wir wollen dich nur schützen.
So wie Eltern ihre Kinder eben beschützen"
Langsam merkte ich, dass sie tatsächlich mehr wussten, als ich zu glauben mag.
,,Wir wollten nie, dass du etwas Entscheidenes herausfindest"
,,Was denn herausfinden?"
,,Wir haben dich weggebracht, um dich zu schützen und weil jemand anderes deinen Platz eingenommen hat"
,,Was?"
fragte ich völlig überrumpelt.
,,Wir mussten dich von uns fernhalten, weil wir jemand anderes großgezogen haben"
sagte nun meine Mutter.
Langsam und langsam ergab das alles Sinn.
Sie hatten jemanden hierhergeholt, von dem ich nichts wissen durfte.
,,Und wer soll das bitte sein?
Habt ihr jemanden aufgegabelt?"
,,Ja, deinen Bruder"
Jetzt brach ich in Lachen aus.
,,Heather, wir meinen das Ernst"
sagte meine Mutter im ernsten Tonfall.
Als ich bemerkte, dass ihre Miene starr blieb, verging mir das Lachen allmählich.
Sie machten keine Witze.
,,Und wer ist mein Bruder?"
wollte ich jetzt wissen.
Meine Eltern sahen sich an und nickten sich ermunternd zu.
,,Larson"
flüsterte meine Mutter.
Mein Herz setzte für einige Sekunden aus.
Larson?
Larson.
Nein.
Das kann nicht sein.
,,Aber...das...das kann doch nicht sein.
Ich...ich war es doch, der ihn rettete.
Wenn er mein Bruder sein soll, wo war er denn die ganze Zeit?!"
schrie ich und war bereits vom Sofa aufgesprungen.
Meine Sicht war verschwommen, da mir die Tränen in den Augen traten.
,,Er war aufeinmal weg.
Wir wussten, dass ihn jemand entführt hatte und dass sie auch dich holen würden"
erklärte mein Vater mir.
,,Also wollt ihr mir weiß machen, dass Larson's Schwester nicht seine Schwester war?!"
Meine Mutter nickte.
Meine Gedanken kreisten, wie in einem ewigen Kettenkarussel.
,,Deshalb wolltet ihr, dass ich nachhause komme.
Als ihr gemerkt habt, dass Larson und ich uns kennen, habt ihr Jaiden nur als Vorwand benutzt, weil ihr dachtet ich würde es nicht herausfinden"
wurde mir klar und jetzt setzten sich weitere Puzzlestücke zusammen.
Wieder nickten sie nur.
Mich machte das so wütend, dass sie dazu nichts weiter sagten, als zu nicken.
Wütend rannte ich in mein Zimmer und griff nach meiner Schultasche.
Ich würde hier keine Minute länger ausharren.
Bei diesen Verrätern.
Heuchlern.
So schnell ich konnte rannte ich aus der, zu meinem Glück noch nicht verschlossenen, Haustür.
Wenn meine Eltern mitbekommen haben, dass ich jetzt weg war, würde es nur Sekunden dauern, bis sie mich suchen würden.
Also rannte ich die Siedlung herunter.
In die Sternenklare Nacht hinein.
Ich rannte soweit, bis ich mir sicher sein konnte, dass mich niemand sehen würde.
In einer Straßengasse ließ ich mich die Wand runtergleiten und ließ die Tränen freien Lauf.
Ich weinte solange, bis nichts mehr kam.
Zwischen den Müllcontainern und Abfall, lugte ein kleiner Straßenhund hervor.
Ich streckte meine Hand aus, um ihn anzulocken, aber als das nicht funktionierte, holte ich noch das letzte Stückchen Brot aus meiner Tasche und lockte ihn so zu mir heran.
Es war ein kleiner weißer Bologneser.
Gierig fraß er das Stückchen.
Auch ich aß ein paar Bissen von dem Brot.
Also teilte ich mir mit ihm mein Abendessen.
Und tatsächlich schlich mir ein grinsen über das Gesicht, als der Hund sich zusammenrollte und den Kopf auf mein Knie legte.
Immerhin musste ich die Nacht nicht alleine verbringen.

Ohne die Dunkelheit könnten wir keine Sterne sehen.

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