Es war kalt. Arschkalt. Und Mara stand natürlich lediglich mit dünnen Klamotten in dieser unerträglichen Gasse. Wenn man es überhaupt noch Klamotten nennen konnte. Verdammt. Wie hatte sie nur so blöd sein können?
Sie schlang die Arme um sich. In letzter Zeit war sie dünner geworden, das merkte sie deutlich. Doch das war nicht gut. Das war gar nicht gut.
Alles an ihr war während dieser kalten Monate zurückgegangen. Ihre Arme und Beine, die früher so schön kräftig gewesen waren, waren nun nur noch schwache Stöcke. Ihr Bauch war eingefallen und an ihrem Brustkorb konnte man die Rippen zählen. Dann waren da natürlich noch die Brüste. Sie waren deutlich kleiner geworden. Haut und Knochen, als mehr konnte man sie im Allgemeinen nicht beschreiben. Sie sah einfach ungesund aus.
Und das war auch der Grund, warum sie hier in etwas, das man nur großzügig als Unterwäsche bezeichnen konnte, auf der Straße stand. Sie wurde einfach rausgeworfen.
"Du siehst krank aus", hatte ihr Boss gesagt. "So verdiene ich mit dir kein Geld."
Und damit hatte er ihr befohlen zu gehen. Das Blöde war: all ihre Kleidung gehörte ihm. Und da Ed ein unfassbarer Geizkragen war, hatte er ihr nicht erlaubt, etwas mitzunehmen. Zumindest nichts außer einem hauchdünnen weißen Hemd. Doch vorher hatte es geregnet, also half ihr das auch nichts. Es war völlig durchnässt. All ihre anderen Klamotten würden an die nächste Frau gehen, die sich an Ed verkauften. Oder besser gesagt, die sich an sein Bordell verkaufte.
Mara selbst bereute die Entscheidung, dort gearbeitet zu haben. Sie hatte nicht genug verdient, um irgendwie auf eigenen Beinen stehen zu können. Das einzig Gute an der Sache war, dass sie ein Zimmer gestellt bekommen hatte. Es war zwar gleichzeitig das Zimmer, in dem sie sich um die Kunden kümmerte, aber zumindest war es warm.
Essen hatte sie aber nicht bekommen und musste es sich von ihrem spärlichen Lohn selbst kaufen. Und das in einer völlig überteuerten Stadt. Sie hatte nie genug gehabt. Und das hatte sie nun den Job gekostet. Und bald womöglich auch das Leben.
Wenn sie keinen Unterschlupf fand, bedeutete das ihren Tod. Im Winter auf der Straße zu leben war nicht angenehm. Vermutlich würde sie sich an eine Straße stellen müssen, in der Hoffnung, jemand würde anhalten. Zumindest hatte sie das richtige Outfit, um ein paar Autofahrer anzuhalten. Auch wenn das auf mehr als nur eine Art gefährlich war.
"Ist es nicht ein bisschen kalt hier draußen?", ertönte da eine Stimme hinter ihr.
Mara wirbelte herum. "Wer ist da?", fragte sie und schaute sich alarmiert um.
Eine Gestalt trat aus den Schatten in das spärliche Licht einer Straßenlaterne. "Das spielt keine Rolle. Was machst du hier?"
Mara verschränkte die Arme vor sich und versuchte möglichst unauffällig, möglichst viel zu bedecken. Nicht, dass es bei ihr sonderlich viel zu sehen gab. Sie war ein Brett. Trotzdem gefiel es ihr nicht, dass der Fremde sie so leicht bekleidet sah. Er war unheimlich.
"Ich wüsste nicht, was dich das angeht", gab sie zurück.
Er ging gar nicht darauf ein, kam aber ein paar Schritte näher. Er trug einen schwarzen Mantel, dessen Kapuze er tief ins Gesicht gezogen hatte. Man erkannte nichts von ihm, außer, dass er ungewöhnlich groß war. Deutlich größer als Mara, und sie war nicht gerade klein.
"Ich interessiere mich einfach dafür."
Sie trat einen Schritt zurück. Scheiße, sie konnte nicht einmal fliehen. Hinter ihr waren nur die Mülltonnen. Der einzige Weg aus der Gasse führte an ihm vorbei. Verdammt. "Dass dich etwas interessiert bedeutet noch lange nicht, dass du dazu berechtigt bist, es zu erfahren."
Der Fremde lachte. Er hatte eine tiefe, weiche Stimme. Irgendwie sanft... und beruhigend. "Da hast du wohl recht. Aber du musst mir doch zustimmen, dass es viel zu kalt hier ist. Besonders in solcher Kleidung."
Mara schnaubte. So einer war er also. Ein Neunmalklug, der alles besser wusste. Vermutlich reiche Eltern, keinen Tag gearbeitet und sich niemals die Finger schmutzig gemacht. "Nein, weißt du, es ist richtig schön warm heute."
"Höre ich da ein wenig Ironie in deiner Stimme?"
"Wenn du da nur ein wenig hörst, solltest du dir Hörgeräte besorgen. Und jetzt lass mich in Ruhe. Der Eingang ist auf der anderen Seite."
"Und wenn ich gar nicht reingehen will?"
"Dann weiß ich nicht, was du hier machst. Geh nach Hause."
"Und wenn ich das nicht vorhabe?"
Mara verdrehte die Augen. Also auch noch arrogant. Nervig und arrogant. "Dann geh zumindest weg von hier. Ich will meine Ruhe haben."
"Arbeitest du hier?"
Sie war kurz davor, ihm eine runter zu hauen. "Nein. Und jetzt hau ab."
"Du hast mir gar nichts zu sagen."
"Schön, dann gehe ich halt." Sie reckte das Kinn und lief los, mit dem Plan, einfach an ihm vorbeizugehen.
Doch das klappte nicht ganz. Der Fremde packte sie am Arm. "Wo willst du hin?"
"Fass mich nicht an", zischte Mara und riss sich los. Einem Schlag ins Gesicht wich der Mann dummerweise geschickt aus.
Dieser versuchte sogleich, sie zu beruhigen. "Ich tu dir nichts", versicherte er. "Ich will bloß helfen. Komm mit zu mir, ich gebe dir Kleidung. Sonst erfrierst du hier noch."
Wäre die Situation nicht so gefährlich, hätte Mara laut losgelacht. "Das ist nicht dein Ernst, oder? Ich habe sexy Unterwäsche an, ja, aber das heißt nicht, dass ich mit jedem dahergelaufenen Typen ins Bett hüpfe. Wenn du so gerne vögeln willst, kann ich dich gern zum Eingang bringen. Dort sind einige Frauen, die dir helfen, deine Bedürfnisse zu erfüllen. Oder Männer, ganz wie du magst. Aber ich gehöre nicht dazu. Also hau ab."
Eilig schüttelte der Mann den Kopf. "Nein, du verstehst das falsch. Ich will nicht mit dir schlafen, ich will bloß nicht, dass du erfrierst. Du hast schon ganz blaue Lippen."
Mara lehnte den Kopf zur Seite. "Nenn mir einen einzigen Grund, warum ich dir glauben sollte."
"Ich bin asexuell."
Sie zog eine Augenbraue hoch. "Wieso bist du dann hier?" Es war ein Uhr morgens. Es gab keine Ausrede, die jetzt Sinn ergeben hätte.
Und der Fremde versuchte es auch gar nicht erst. "Ich habe meine Gründe."
"Sicher doch. Ich traue dir aber nicht."
"Das habe ich auch nicht erwartet. Aber willst du lieber hier erfrieren?"
"Besser als mit einem Wildfremden weiß der Himmel wohin zu gehen. Wer weiß, vielleicht bist du ein Serienkiller."
"Ich verspreche, das bin ich nicht."
Ein humorloses Lachen. "Ein Versprechen ohne Vertrauen ist wertlos."
"Das stimmt wohl."
"Na also. Lässt du mich jetzt gehen?"
"Du willst wirklich so durch die Stadt laufen?" Er schien von diesem Plan nicht überzeugt zu sein.
Zugegeben, Mara war das auch nicht, aber sie hatte keine Wahl. "Ja, will ich."
"Dir ist schon klar, dass das sehr gefährlich ist?"
"Nicht gefährlicher als hier."
Sie konnte ein Kopfschütteln erkennen. "Es ist sogar sehr viel gefährlicher."
"Ich komme damit klar."
"Das werden wir ja sehen." Er trat einen Schritt zurück und ließ Mara an sich vorbei.
Diese verschwendete keine Zeit und stapfte direkt an ihm vorbei. Zum Glück lag kein Schnee, denn sonst wäre sie mit ihren High Heels nicht weit gekommen. Wenigstens handelte es sich bei denen um hohe Stiefel, die relativ warm waren. Aber natürlich nicht warm genug.
Erleichtert, endlich ihre Ruhe haben zu können, bog Mara um eine Kurve aus der Gasse heraus. Sie war jedoch so sehr darauf konzentriert, nicht hinzufallen, dass sie den Fahrradfahrer nicht sah, der direkt in ihre Richtung fuhr. Doch als sie ihn erblickte, war es längst zu spät. Ihre Welt fiel in grenzenlose Dunkelheit.
DU LIEST GERADE
The Light - Blut des Lebens
ParanormalMara wollte immer nur eines. Leben. Doch in letzter Zeit wurde das immer schwieriger. Als sich der junge Will jedoch dazu entschließt, sie vor dem Tod zu bewahren, dachten sie beide, dass nun alles besser werden würde. Falsch gedacht. Als sie in ein...