Bepackt mit einem Tablet und einer Musikbox, die sie in Wills Zimmer gefunden hatte machte Mara sich kurze Zeit später auf den Weg nach draußen. Es war erst Mittag und sie wollte das Tageslicht nutzen. Dass Javed nicht rauskommen würde, weil die Wirkung ihres Blutes auch bei ihm mittlerweile nachgelassen hatte, war ein praktischer Nebeneffekt.
Entschlossen lief sie ums Haus herum, bis sie hinten in einem riesigen Garten gelangte. Eine riesige Wiese wurde hier von Büschen und Bäumen gesäumt, die Schatten spendeten. Der perfekte Ort zum Trainieren.
Zufrieden verband Mara Box und Tablet und wählte ihre Lieblingsplaylist auf Spotify aus. Als hätte die App geahnt, welches Lied sie jetzt brauchte, spielte sie Thank You For Hating Me von Citizen Soldier. Sie liebte diese Band.
Die schnellen, harten Klänge drangen ihr ins Ohr, während sie sich aufwärmte. Hampelmänner, ein paar Runden rennen, Dehnübungen. Obwohl sie die Bewegungsabläufe seit Jahren nicht mehr ausgeführt hatte, kannte ihr Körper sie instinktiv alle noch. Zehn Jahre Turnen verschwanden wohl doch nicht einfach ins Nichts. Auch wenn sie in den letzten Monaten wirklich viele Muskeln abgebaut hatte.
Vorsichtig versuchte sie sich an ein paar Überschlägen. Bodenturnen war schon immer ihre liebste Disziplin gewesen, aber nach so langer Zeit ohne Übung würde sie wohl das Meiste neu lernen müssen. Zudem konnte sie auf diesem Untergrund sowieso nicht alles machen. Für viele Übungen war ein gefederter Boden mehr als nur notwendig.
Aber Mara hatte auch nicht vor, ihre Turnkarriere wieder aufzunehmen. Sie wollte lediglich ihre Kraft wiedererlangen. Und dafür waren die Übungen, die sie damals regelmäßig gemacht hatte, perfekt geeignet.
Allerdings hatten sie einen Nachteil. Nach so langer Pause waren sie verdammt anstrengend. Mara ächzte bereits nach zwanzig Minuten. Das würde einen grausamen Muskelkater geben. Darauf freute sie sich absolut nicht.
Dafür verschaffte ihr der Sport Ablenkung und Ruhe. Das war schon früher so gewesen. Trotz ihrem schweren Atem war sie so entspannt wie lange nicht mehr. Das Brennen in ihren Muskeln war ein willkommenes Gefühl und nachdem sie sich schließlich völlig erschöpft auf den Rücken gelegt hatte, fühlte sie sich schon viel besser. Stärker, mutiger und... lebendiger.
Glücklich schaute sie hinauf zum Himmel. Es war ein schöner Tag. Und sie konnte ihre Schadenfreude darüber, dass Javed im Haus bleiben musste, nicht verbergen. Aber da sie allein war, war es nicht schlimm, wenn sie lachte. Wenn sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ. Zumindest den Positiven. Die negativen Dinge in ihrem Leben... von denen brauchte sie erst einmal eine Pause. Die Begegnung mit der Organisation, mit den Tenebris, hatten sie schwer getroffen. Sie hatte tatsächlich gedacht, sie wäre sie losgeworden.
Mittlerweile war ihr jedoch klar, dass das nie der Fall sein würde. Dabrio würde nicht aufgeben, bis er sie getötet hatte. Die Hartnäckigkeit lag in der Familie. Unwillkürlich berührte sie ihren Hals. Sie würde sich nicht von ihm umbringen lassen. Niemals. Da war sie lieber ihr Leben lang auf der Flucht. Allein schon, weil sie ihn nicht ansehen wollte, ihn nicht ansehen konnte. Dieser Mann hatte ihr Leben zerstört.
"Scheiße", murmelte Mara genervt und wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullis übers Gesicht. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie zu weinen begonnen hatte. Wieso war sie bloß so?
Ratlos setzte sie sich auf. Was sollte sie nur tun? Dabrio wusste jetzt, dass sie noch immer in der Nähe von San Francisco war. Jetzt würde er seine Suche verschärfen. Sie war zum Greifen nah. Seine kranken Pläne standen kurz vor der Verwirklichung. Was immer er vorhatte, es beinhaltete vor allem ihren Tod. Und das allein genügte, um ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken zu jagen.
Weiter konnte sie nicht darüber nachdenken, denn ein gewisser Vampir mit zerzaustem Haar trat in ihr Blickfeld. Mara stand auf und streckte den Rücken durch. Sie wollte sich ihre Verzweiflung nicht anmerken lassen. "Was machst du hier?", fragte sie und tat ihr Bestes, angesichts einer langsam verheilenden Wunde über seinem Auge nicht zurückzuzucken. Was war dort drinnen passiert, während sie hier war?
"Mara..." Will trat näher. "Es tut mir so leid, was er gesagt hat. Ich weiß, dass du nicht zu dieser Organisation gehörst."
"Ich weiß, dass du das weißt. Und was Javed denkt ist bedeutungslos. Er sieht das, was er sehen will." In ihrer Stimme lag nichts als Kälte. Als hätte sie jede Emotion eingefroren.
Will schüttelte den Kopf. "Bitte tu das nicht. Du bist nicht so."
Sie lachte humorlos auf. "Wie bin ich denn dann?"
"Gerecht, freundlich. Du bist ein guter Mensch." Er sagte die Wahrheit. Oder zumindest das, was er als Wahrheit sah.
Aber Maras Wahrheit war eine andere. "Ich bin kein guter Mensch. Niemand ist das. Ich bin das, was ich die Leute sehen lasse. Du hast es dir verdient, meine gute Seite zu sehen. Javed beleidigt mich, hasst mich und unterschätzt sich. Jetzt wird er merken, was er davon hat. Das hat er sich selbst zuzuschreiben. Und dafür werde ich mich auch nicht entschuldigen." Sie hielt für einen Moment die Luft an um die aufsteigenden Emotionen wieder runter zu drücken und dort festzuhalten. "Er will spielen? Gern. Ich spiele besser."
"Er... er ist immer sehr misstrauisch. Er braucht Zeit, um dir zu vertrauen. Gib ihm noch ein paar Wochen."
Das war doch unglaublich! "Jetzt erfindest du Ausreden für ihn? Ich soll warten, bis er mir vertraut? Was ist mit meinem Vertrauen in ihn? Das muss er sich auch erst verdienen. Und bis er das nicht tut, werde ich ihn nicht anders behandeln als jetzt. Er ist dein Freund, nicht meiner." Sie war außer sich. Wie konnte Will nach all dem trotzdem auf Javeds Seite stehen? Natürlich, die beiden kannten sich länger, aber er musste doch sehen, wer in diesem Fall recht hatte. Die Enttäuschung ließ sich nur schwer verbergen.
"Ich sage ja nicht, dass du ihm blind vertrauen sollst, sondern nur, dass er bei sowas Zeit braucht. Er hat eine üble Vergangenheit mit deiner Familie und..."
Jetzt reichte es wirklich. "Ganz genau. Mit meiner Familie. Nicht mit mir. Ich habe nichts damit zu tun, also soll er gefälligst nicht so tun, als hätte ich es. Wenn wir nach dem Prinzip gehen, könnte man auch die Handlungen der Tenebris nachvollziehen. Vielleicht haben sie auch eine üble Vergangenheit mit Vampiren, so wie Javed mit ihnen. Vielleicht benehmen sie sich ja deshalb so." Mit jedem Satz ging sie näher an Will heran, eine geballte Macht aus Zorn, bis sie ihm mit dem Finger auf die Brust zeigte.
Der Vampir versuchte, sie zu beruhigen, sah aber offensichtlich schon, dass das nichts werden würde. In seinen Augen lag Furcht. Furcht vor Mara. "Ich verstehe ja, was du meinst, aber das ist nicht das Gleiche. Die Tenebris foltern unschuldige Leute!"
"Und Javed tut das nicht? Denkst du, es macht mir nichts aus, dass er mich als naiv und dumm bezeichnet und mich mit den Leuten vergleicht, die mich umbringen wollen? Denkst du, das ist mir egal? Du hast keine Ahnung, was wirklich Sache ist, also tu nicht so, als hättest du es. Du weißt nichts. Gar nichts." Grimmig atmete sie aus und stieß Will zur Seite. Sie wollte ihn nicht mehr sehen.
Verbittert und enttäuscht ging sie zurück ins Haus. Sie hatte sich wohl getäuscht. Will war nicht dieser liebe, beschützerische Kerl, für den sie ihn gehalten hatte. Er hatte sich für Javed entschieden. Und das würde er wieder tun. Sie hatte es in seinen Augen gesehen. Und das verletzte sie mehr, als Javed es je hätte tun können.
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The Light - Blut des Lebens
ParanormalMara wollte immer nur eines. Leben. Doch in letzter Zeit wurde das immer schwieriger. Als sich der junge Will jedoch dazu entschließt, sie vor dem Tod zu bewahren, dachten sie beide, dass nun alles besser werden würde. Falsch gedacht. Als sie in ein...