"Komm endlich raus, du verpennte Fledermaus!", schrie Mara durchs ganze Haus und schlug zwei Topfdeckel gegeneinander.
Seit zwei Wochen wohnte sie nun schon hier und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Will das Leben zur Hölle zu machen. Ziemlich schnell hatte sie herausgefunden, dass dieser empfindliche Ohren hatte, also war sie besonders gerne besonders laut. Vor allem in Situationen wie jetzt.
Will hätte bereits vor einer Viertelstunde hier im Wohnzimmer sein sollen, aber er brauchte wieder einmal ewig. Mara, die nicht wirklich etwas zu tun hatte, langweilte sich extrem, daher nervte sie ihn so oft.
"Fledermaus?", fragte Will, der aus dem Nichts aufgetaucht war, verwundert und ein wenig... erschrocken? Bevor sie die Deckel noch einmal gegeneinander schlagen konnte, nahm er sie ihr aus der Hand.
"Ja, Fledermaus. Hast du dich mal im Spiegel angeschaut? Du hast immer dunkle Sachen an und man kann echt Schiss vor dir haben. Besonders wenn du diese blöde Kapuze auf hast." Mara stellte sich auf die Zehenspitzen und zog ihm die Kapuze seines Hoodies vom Kopf. "Hier drin brauchst du die nicht, es regnet nicht. Und wenn man dein Gesicht sieht, bist du wie so eine niedliche Maus. Vollkommen harmlos." Grinsend kniff sie ihn in die Wangen.
Lachend verdrehte Will die Augen. "Und das macht mich zu einer Fledermaus?"
Mara nickte entschieden. "Das und die Tatsache, dass du nachtaktiv bist."
"Du bist einfach unglaublich."
"Das nehme ich als Kompliment. Das Verpennt kommt übrigens von deinen Haaren", erklärte sie und ließ sich aufs Sofa fallen.
Will brachte die Deckel zurück in die angrenzende Küche. "Was hast du immer gegen meine Haare?"
"Du siehst aus, als wärst du erst aufgestanden. Wie können Haare so zerzaust sein?" Sie meinte das nicht böse und das wusste er auch. Denn auch wenn sein Haar durcheinander war, sah es gut aus, das musste sie zugeben.
"Wie können Haare so strohig sein?", gab er zurück und schnappte sich die Fernbedienung.
Mara lachte. Ihr Haar war wirklich verdammt strohig. "Touche."
"Also, welchen Film wollen wir schauen?" Will schaltete den Fernseher an.
"Mach die Augen zu", bat sie und schnappte ihm die Fernbedienung weg.
"Das kann ja mal was werden." Aber er schaute wirklich weg.
Zufrieden öffnete sie Netflix und wählte einen Film aus. Perfekt passend zu Wills neuen Spitznamen.
"Bat Man? Wirklich?" Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er die Augen schließlich wieder öffnen durfte.
"Warum nicht? Es ist ein guter Film und du und er seid euch ziemlich ähnlich. Fledermäuse, unerträglich ernst, soll ich noch mehr aufzählen?"
"Ich hab's schon verstanden", versicherte Will. "Dann bist du aber Dick Grayson. Temperamentvoll, schnell gelangweilt, sprichst viel..."
Mara lachte. "Okay, okay. Wollen wir jetzt den Film schauen?"
"Gern. Ich hole uns nur noch schnell was zum Trinken. Nimmst du Cola wie immer?"
"Klar. Soll ich dir tragen helfen?" Sie drehte sich auf dem Sofa um, während er in Richtung Küche ging.
Er schüttelte den Kopf. "Das schaff ich schon."
"Perfekt." Sie grinste und rutschte ganz nach links auf dem Sofa. Dort war es am Bequemsten und man konnte den Fernseher am besten sehen. Außerdem schnappte sie sich gleich noch ein Kissen und umklammerte es vor ihrem Bauch.
Die gemeinsamen Filmabende waren ihr schon in so kurzer Zeit ans Herz gewachsen. Es machte einfach Spaß, mit Will über verschiedenste Charaktere und Handlungsverläufe zu reden und sich gegebenenfalles auch darüber lustig zu machen. Anfangs hatte sie sich geweigert, das zuzugeben, aber mittlerweile war es ihr egal. Es war vermutlich doch keine so schlechte Idee gewesen, hier zu bleiben. Auch wenn sie das niemals laut aussprechen würde. Dafür war sie zu stolz.
Aber die Chancen standen gut, dass Will es ohnehin wusste. Es war ja auch offensichtlich. Mara hatte nur ein paar Tage gebraucht, um sich hier einzugewöhnen und sobald sie das getan hatte, war sie vertrauensvoller gewesen. Und hatte auch ihre verrückte, fröhliche Seite gezeigt. Das tat sie nur, wenn sie sich wirklich wohlfühlte. Und mittlerweile war das der Fall. Sie fühlte sich hier sicher, auch wenn einige Sachen seltsam waren.
Da waren zum Beispiel die Fenster. Jedes einzelne davon, war mit den Vorhängen verdeckt, die ihr bereits am ersten Tag aufgefallen waren. Sie waren überall und Will zog sie nie beiseite. Und manche Räume hatten nicht einmal Fenster. Dafür war das ganze Gebäude mit altmodischen Lampen erhellt, wenn auch meist nur spärlich. Es hätte gruselig sein können, aber irgendwie schuf es eine friedliche, gemütliche Atmosphäre. Außerdem konnte sie so niemand hier drinnen sehen. Das war gut. Sicher. Sie wollte nicht, dass die falschen Leute sie fanden.
Dann gab es noch Will, oder besser gesagt, seinen Schlafrhythmus. Tagsüber schlief er, dafür war er nachts wach. Aber er arbeitete nicht. Laut ihm kam alles Geld von seinem Freund, den Mara noch immer nicht getroffen hatte. So langsam bezweifelte sie, dass es ihn überhaupt gab. Vielleicht hatte Will ja irgendwelche illegalen Geschäfte am Laufen und das war seine Tarnung... Ob sie ihn danach fragen sollte?
Wahrscheinlich eher nicht. Sie hatte ihre Geheimnisse und er seine. Das war nur fair. Und solange er sie nicht in irgendwelche Angelegenheiten mit hinein zog, hatte sie auch kein Problem damit. Lediglich ihre Neugier sagte etwas anderes. Aber das würde sie einfach ignorieren. Es hatte sie schon viel zu oft in üble Situationen gebracht, Fragen zu stellen.
Am besten, sie gewöhnte sich einfach an all die Seltsamkeiten. Teilweise hatte sie das ja sogar schon getan. Sie war mittlerweile auch größtenteils nachts wach. Die Umgewöhnung war ihr nicht schwer gefallen, denn im Bordell wartete die Arbeit schließlich auch hauptsächlich nachts. Doch jetzt musste sie sich nicht mehr mit ekligen Kerlen rumschlagen, sondern mit Will. Das war eine Verbesserung. Denn immerhin brachte Will ihr Cola.
"Danke", sagte sie, als er ihr das Glas reichte und sich neben sie setzte.
Er selbst trank Wein, wie immer. Und ebenfalls wie immer trank er ihn aus einem Weinglas, das aus Metall gemacht und kunstvoll verziert war. Teuer, definitiv. Er hatte eindeutig zu viel Geld. Wahrscheinlich kostete der Wein ebenfalls mehr, als sie im Bordell in einem ganzen Jahr verdient hätte.
Mara drückte die Play Taste der Fernbedienung und nahm sich eine Hand voll Popcorn aus der Schüssel, die Will ebenfalls mitgebracht hatte. Salziges Popcorn. Genüsslich schloss sie die Augen. Das war das Beste.
Will aß nichts davon. Er aß fast nie etwas. Zumindest sah Mara ihn nur selten dabei. Er meinte immer, er hätte keinen Hunger. Mara nahm das so hin. Da war er selbst schuld, wenn er sich so etwas Köstliches entgehen ließ. Sie für ihren Teil aß alles, was sie kriegen konnte. Und das sah man ihr an.
Bereits in der kurzen Zeit, in der sie hier war, hatte sie deutlich zugenommen. Die Knochen stachen nicht mehr so heraus und sie fühlte sich endlich wieder mehr wie ein Mensch. Und das war das beste Gefühl der Welt.
Mara lehnte sich zur Seite und legte ihren Kopf auf Wills Schulter ab. So schauten die beiden den Film. Mit einer Vertrautheit, von denen keiner von beiden je zu träumen gewagt hätte.
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The Light - Blut des Lebens
ParanormalMara wollte immer nur eines. Leben. Doch in letzter Zeit wurde das immer schwieriger. Als sich der junge Will jedoch dazu entschließt, sie vor dem Tod zu bewahren, dachten sie beide, dass nun alles besser werden würde. Falsch gedacht. Als sie in ein...