"Nein!" Maras Schrei durchschnitt die Luft wie das schärfste Messer. Schärfer noch als das Messer, das gegen ihren Hals gedrückt wurde.
"Nein!", brüllte sie erneut und versuchte verzweifelt, sich loszureißen. Sie wollte noch nicht sterben.
Das Messer bewegte sich ein Stück. Nun schnitt es ihr bereits die Haut ein wenig auf. Direkt an ihrer Kehle. "Halt gefälligst die Klappe", fuhr ihr Onkel sie an und drückte sie gewaltsam in Richtung Auto. Er presste einen Arm in ihren Rücken und rammte den spitzen Ellenbogen immer wieder in ihre Rippen. "Lauf schon, du Miststück."
Mara wagte nicht einmal zu schluchzen. Die kleinste Bewegung und sie wäre tot. Sie hatte panische Angst. Warum kam ihr denn niemand zur Hilfe? Sie hatte doch schon vor zehn Minuten den Notruf gewählt. Direkt bevor Dabrio sie gefunden hatte. Hatte die Frau von der Polizei ihr nicht geglaubt? Wusste der Himmel, was passieren würde, wenn niemand kam.
Aber jetzt war es ohnehin zu spät. Dabrio stieß sie auf den Rücksitz des Autos und nahm neben ihr Platz. Die Klinge wich nicht eine Sekunde von ihrem Hals. Mara konnte nicht einmal atmen, ohne zu befürchten, dass ihre Kehle aufgeschlitzt wurde.
"Fahr los", befahl Dabrio dem muskelbepackten Mann auf dem Fahrersitz.
"Ja, Boss."
Diese zwei Worte schienen ihr Schicksal zu besiegeln. Sie brachten sie weg. Jetzt konnte ihr nicht einmal die Polizei mehr helfen. Zumindest würde sie ihre Eltern wiedersehen, wenn sie tot war...
Mara hätte nicht sagen können, ob die Fahrt zehn Minuten oder zehn Stunden dauerte, es fühlte sich zumindest an wie eine Ewigkeit. Und als sie ankamen liefen sie noch eine Ewigkeit bis tief in einen Wald hinein. Hier war die Sechzehnjährige noch nie gewesen. Aber ein Wald schien ihr zumindest eine schöne Atmosphäre zum Sterben zu sein.
Das Messer noch immer an ihren Hals gepresst, sagte Dabrio: "Du kannst es nicht verstehen, aber das ist für das Wohl der Menschheit."
Und dann zog er ihr die Klinge über die Kehle. Genau in der Sekunde, in der auch ihr Überlebensinstinkt ansprang. Schmerz durchfuhr ihren Hals und sie hatte das Gefühl, sie würde ersticken, während sie nach hinten austrat und Dabrio von sich stieß. Dieser griff sofort wieder an, als er realisierte, dass die Wunde, die er ihr zugefügt hatte, nicht tödlich war. Es wurde zu einem Kampf um Leben und Tod.
Dabrio beherrscht von Wut und Mordlust, Mara getrieben von Adrenalin und Panik. Und das Ende dieser Schlacht war ungewiss...
"Amara!" Ein Schlag in ihr Gesicht. Sie reagierte nicht. Sie konnte nicht und schlug und trat um sich was das Zeug hielt. Sie musste überleben, musste entkommen, irgendwie.
"Hör auf", fuhr jemand sie an und im nächsten Moment konnte sie sich nicht mehr bewegen.
Getrieben von blanker Angst riss sie die Augen auf- und befand sich plötzlich in ihrem Schlafzimmer. Was zur... das war ein Albtraum gewesen. Nur ein Albtraum, mehr nicht.
Aber ein Teil ihres Gehirns schien das noch nicht verstanden zu haben. Tränen überströmten ihr Gesicht und sie versuchte, sich loszureißen. Sie musste sich wehren, musste irgendetwas tun und...
Plötzlich saß sie aufrecht im Bett und schlug auf alles ein, was in der Nähe war. Und direkt vor ihr befand sich ein Brustkorb. Ein muskulöser Brustkorb. Und sie ließ es sich nicht nehmen, mit aller Kraft darauf einzuhämmern, während sie schrie und weinte. Sie konnte nicht mehr. Dabrio, diese Erinnerung, das alles war zu viel.
Mit der Zeit ebbte ihr Weinen ab und auch die Schläge wurden weniger. Irgendwann ergriff jemand ihre Fäuste. "Das reicht jetzt", sagte... Javed.
In diesem Moment wachte sie endgültig auf und wäre weggerutscht, ganz weit weg, wenn der Vampir ihre Hände nicht noch immer festgehalten hätte. "Was willst du hier?", fuhr sie ihn an.
Unbeeindruckt ließ er sie los. "Ich habe dich schreien gehört. Es klang, als wolle dich jemand ermorden. Und da ich keine ungebetenen Mörder in meinem Haus haben möchte, bin ich hergekommen. Gern geschehen übrigens. Wenn du weiter so unkontrolliert rumgezappelt hättest, hättest du dich womöglich noch selbst umgebracht."
"Verschwinde einfach", blaffte sie. "Ich hab gerade keinen Nerv für dich." Zwar hatte er nichts getan, aber das würde er mit Sicherheit und sie musste erst mal ihren Kopf klar kriegen. Das gerade war kein gewöhnlicher Albtraum gewesen. Es war eine Erinnerung. Ihre grausamste Erinnerung.
"Wovon hast du geträumt?", fragte Javed und machte nicht einmal Anstalten, sich hinzusetzen. Es war klar, was er damit aussagen wollte. Er war stärker, stand über ihr.
Um ihm dieses Erfolgsgefühl zu vermasseln, setzte sie sich in den Schneidersitz und stützte sich gelangweilt mit den Ellenbogen auf den Knien ab. So gab sie ihm nicht eine Spur des Respekts, den er erwartete. Perfekt. "Meine Träume gehen dich nicht das Geringste an."
"Das tun sie, wenn du beim Aufwachen auf mich einschlägst."
"Wer sagt, dass das am Traum lag? Vielleicht wollte ich dich dich einfach nur schlagen." Sie verschränkte provozierend die Arme.
Javed glaubte ihr nicht. Natürlich. "So dumm wärst du nicht."
"Ach nein? Was sollte denn passieren? Du kannst mich nicht töten", erinnerte sie ihn mit einem Grinsen.
"Und was lässt dich denken, ich würde William nicht ebenfalls töten? Er ist ebenso für deine Handlungen verantwortlich wie du. Alles, was du tust, beeinflusst auch ihn."
Mara wusste sofort, dass er log. Er würde Will nichts antun. "Das Risiko gehe ich ein. Du würdest deinem kleinen Schoßhündchen nichts antun."
Javeds Gesicht erhellte sich ein wenig. "Das ist es also. Du hast Angst, dass ich deine Chancen bei ihm zerstöre. Keine Sorge, ich nehme dir deinen Freund schon nicht weg. Seine Loyalität mir gegenüber steht eurer Beziehung nicht im Weg."
"Bitte was?" Sie konnte es nicht fassen. "Will und ich in einer Beziehung? Eww. Wir sind Freunde, und das wird sich auch nicht ändern, wenn man bedenkt, dass ich lesbisch bin."
"Dann verstehe ich nicht, was dein Problem ist."
Er war ihr Problem. Dieser blinde Hass, das Misstrauen, die Unterstellungen... "Die ganze Welt ist mein Problem! Mein eigener Onkel will mich umbringen, du denkst immer noch, dass ich mit ihm unter einer Decke stecke, Will denkt sich Ausreden für dich aus, weil du ein absoluter Arsch bist und ich bin allein. Ich bin allein und es ist absolut beschissen! Und wenn du jetzt wieder irgendeine Scheiße sagst, ich schwöre dir, dann ist es mir egal, dass du ein Vampir bist und ich nur ein Mensch. Ich werde dir trotzdem deinen Scheiß Kopf abreißen."
Anders als erwartet, machte sich der Vampir nicht über sie lustig. Er entschuldigte sich auch nicht, wie es ein normaler Mensch getan hätte, er fragte lediglich: "Die Narbe an deinem Hals, hast du sie von deinem Onkel?"
Vorsichtig berührte sie die dünne Linie. "Er hat versucht, mir die Kehle aufzuschlitzen. Ich weiß bis heute nicht, wie ich entkommen bin. Ich bin weggerannt und habe irgendwann das Bewusstsein verloren. Am nächsten Morgen bin ich im Krankenhaus aufgewacht." Jemand musste sie gerettet haben, das wusste sie, aber niemand hatte ihr je sagen können, wer es war. Das Einzige, was die Ärzte damals sagen konnten, war, dass es eine Frau gewesen war, die sie damals in die Notaufnahme gebracht hatte.
Aber wieso erzählte sie ihm das überhaupt? Sie konnte ihn nicht leiden, er konnte sie nicht leiden. Sie sollten am besten gar nicht miteinander reden. Also versuchte Mara zumindest, das Thema zu wechseln. "Wo ist Will?"
"Er besorgt Blut", antwortete Javed, wohl ebenfalls froh über das etwas neutralere Thema. "Ich bezahle die Leute im Krankenhaus dafür, regelmäßig ein paar Blutbeutel für ihn zu erübrigen."
Mara nickte nur. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. "Kannst du bitte gehen? Ich möchte mich gern umziehen."
Nicht die beste Ausrede, aber es funktionierte. Javed ging in Richtung Tür und verließ den Raum ohne sich noch einmal umzudrehen. Nun war Mara wahrhaftig allein. Sie wusste nicht genau warum, aber das machte ihr ziemlich zu schaffen.
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The Light - Blut des Lebens
ParanormalMara wollte immer nur eines. Leben. Doch in letzter Zeit wurde das immer schwieriger. Als sich der junge Will jedoch dazu entschließt, sie vor dem Tod zu bewahren, dachten sie beide, dass nun alles besser werden würde. Falsch gedacht. Als sie in ein...