Kapitel 9

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Sie kamen davon. Knapp. Das erfuhr Mara am nächsten Morgen, nachdem sie aufgewacht war. Will hatte sie ins Wohnzimmer gelegt und er und Javed hatten abwechselnd Wache gehalten, falls etwas passieren sollte.

Aber es geschah nichts. Mara wachte einfach nur auf, als hätte sie lediglich geschlafen. Hinterher wünschte sie sich jedoch, sie hätte mehr Drama gemacht. Dann hätten die beiden Vampire sie vielleicht nicht ganz so sehr mit Fragen gelöchert. Oder ihr noch Zeit gegeben, in der sie sich die Antworten hätte zurechtlegen können.

Jetzt war es jedenfalls zu spät dafür. Sie hatte sich nicht einmal umziehen dürfen. Javed war noch misstrauischer als sonst und sah in jeder ihrer Bewegungen eine Bedrohung. Was immer er von dem verstanden hatte, was passiert war, es trug nicht dazu bei, dass er ihr vertraute. Ganz toll.

"Wer waren diese Leute?", fragte Will jetzt schon zum zehnten Mal. Bisher hatte keine ihrer Erklärungen ihn und vor allem Javed zufriedengestellt.

"Wie oft soll ich es noch sagen? Es gibt eine Organisation von Menschen, die von einem Mann namens Dabrio geleitet wird. Diese Leute hassen mich aus irgendeinem Grund und wollen mich tot sehen. Das war's." Das war natürlich nicht alles, aber der Rest war zu persönlich.

"Das reicht nicht", stellte Javed klar. "Was ist das für eine Organisation? In welcher Verbindung stehst du dazu?"

"Ich weiß nicht, was das genau für eine Organisation ist. Mir wurde nie gesagt, was sie machen. Aber meine Eltern haben beide dort gearbeitet. Und Dabrio ist mein Onkel." Mara hasste es, diese Informationen preiszugeben, aber sie war noch zu erledigt um sich irgendwelche Halbwahrheiten ausdenken zu können.

Javeds Blick verfinsterte sich. "Dein Nachname ist Dinora, richtig?"

Sie nickte. "Was tut das zur Sache?"

"Es bedeutet, ich weiß, welche Organisation das ist."

"Und was für eine ist es?" Mara setzte sich etwas aufrechter hin. Diese Frage stellte sie sich schon seit sie ein Kind war.

Er packte sie am Hals. "Tu nicht so als wüsstest du das nicht."

Will sprang zwischen die beiden und riss Javed von Mara, die aufkeuchte. Himmel, dieser Kerl hatte Aggressionsprobleme! "Lass sie in Ruhe", fuhr Will ihn an. "Was stimmt nicht mit dir?"

Javed setzte sich gelassen wieder hin. "Du wirst sie umbringen. Jetzt sofort."

Wütend sprang Mara auf. "Hast du jetzt völlig den Verstand verloren? Mord ist nicht immer die Lösung! Mal ganz davon abgesehen, dass ich nicht mal etwas von dieser beschissenen Organisation weiß, außer dass sie mich umbringen wollen!"

"Pass auf, wie du sprichst, Mädchen", warnte er. "Und es ist absolut unmöglich, dass du nicht längst Teil dieser Organisation bist. Du bist 18 Jahre alt. Deine Eltern haben dir längst davon erzählt. Mit 18 wird man offiziell aufgenommen."

"Meine Eltern sind seit meinem 16ten Geburtstag tot", fuhr sie ihn an. "Also nein, ich habe nichts mit all dem zu tun. Aber wenn du doch so viel weißt, wieso rückst du dann nicht mit der Sprache raus?" Sie war außer sich vor Wut. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen. Aber richtig. Mit einem Stuhl. Ins Gesicht.

"Ich glaube dir nicht."

"Dann tu's nicht", meinte Will. "Aber ich glaube ihr. Und was ist das überhaupt für eine Organisation?"

Javed war noch immer nicht zufrieden, aber zumindest antwortete er. "Die Tenebris sind eine Gruppe an Vampirjägern. Aber sie töten uns nicht einfach, sondern machen sich einen Spaß daraus, uns zu foltern und in kleine Stücke zu schneiden. Ich war ein paar Jahre eins ihrer Versuchsobjekte und eins könnt ihr mir glauben. Sie alle sind sadistische Psychopathen."

"Und dort sollen meine Eltern gearbeitet haben? Das kann nicht sein." Dabrio ja, aber nicht ihre Eltern. Sie waren zu gutherzig gewesen, zu mitfühlend. Niemals hätten sie so etwas tun können.

Der Vampir lachte. "Naives Kind. Deine Eltern waren sogar die Schlimmsten von allen. Es ist schön zu hören, dass sie tot sind. Haben sie gelitten?"

Mara schrie nicht, sie schlug nicht um sich und sie weinte nicht. Sie stand einfach nur auf und verließ den Raum. Während sie den Flur entlang lief, ging Will auf Javed los, doch sie kehrte nicht um. Weg. Einfach weg.

Mit zitternden Knien lief sie nach oben. Javed hatte gelogen. Er musste gelogen haben, denn es war nicht möglich, dass ihre Eltern solche Grausamkeiten getan hatten. Sie waren stets ihre Vorbilder gewesen. Sie hatten geholfen, wenn jemand in Not war, hatten regelmäßig in wohltätigen Einrichtungen gearbeitet und niemals jemandem etwas zuleide getan. Sie waren einfach ein ganz normales Pärchen mit einer Vorliebe für schwarz-weiß Filme gewesen. Keine Monster.

Verständnislos lief sie ins Bad. Sie musste duschen. Einfach all diesen Dreck wegwaschen, von dem sie nicht wusste, wie viel real war und wie viel nur in ihrem Kopf.

Als Mara sich auszog, fiel ihr etwas auf. Der Stoffstreifen, den Pythia ihr ums Handgelenk geschlungen hatte, befand sich noch immer an Ort und Stelle. Es war nicht einmal verrutscht. Sie beschloss, es zu entfernen. Die Haut darunter war gerötet, wie bei einem Sonnenbrand, und fühlte sich wund an. Was hatte diese Frau mit ihr gemacht?

Vorsichtig hielt sie die Hand unter kaltes Wasser. Erst brannte es und sie zuckte zurück, aber dann wurde es doch besser. Eine unfassbare Erleichterung. Aber auch wenn es ihrem Handgelenk besser ging, ging es ihren Gedannken so beschissen wie noch nie.

Der Verzweiflung nahe setzte sie sich auf den Boden und lehnte den Kopf gegen die Badewanne. Ihr Leben war wirklich zur Hölle gegangen. Ob es wohl irgendwann besser werden würde? Irgendwie bezweifelte sie es. Denn momentan war sie auf ihrem persönlichen Tiefpunkt. Nackt auf dem Boden des Badezimmers, mit unzähligen schmerzenden Körperstellen und nicht wissend, was echt war und was nicht. Sie hätte nie zustimmen dürfen, hier zu bleiben.

Fast zwanzig Minuten saß sie da, ihr ganzes Leben in Frage stellend. Zu einem Ergebnis kam sie nicht. Aber sie stand wieder auf. "Ich bin stärker als das", sagte sie sich und stieg in die Dusche. Sie musste stärker sein, denn sonst würde sie brechen. Und das würde sie nicht zulassen. Unter keinen Umständen. Sie würde nicht brechen.

Mit dem Wasser auf der kältesten Stufe verbrachte sie nicht viel Zeit in der Dusche, aber es reichte um sie aus ihrer Trance zu wecken. Javed hatte versucht, ihre Eltern gegen sie zu verwenden und er hatte es geschafft, sie zu verunsichern. Aber jetzt nicht mehr. Nie wieder. Sie würde ihm zeigen, dass sie so etwas nicht mit sich machen ließ. Er hatte keine Macht über sie. Und das würde er auch nie haben. Sie allein bestimmte, wie es ihr erging, niemand sonst. Und ganz besonders nicht dieser arrogante, mordlustige Vampir. Er würde es noch bereuen, sich mit ihr angelegt zu haben.

Mit diesem Entschluss stieg sie aus der Dusche. Ihr Gesichtsausdruck kälter als Eis.

The Light - Blut des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt