Kapitel 2

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Rückblick - 9 Jahre zuvor

Der achtjährige Sam saß neben seiner Mutter und seinem Vater im Wartezimmer der Krankenstation des Dorfes. Der kleine Junge war nervös. Heute würde er erfahren, was für einen Rang er im Rudel haben würde. Er hoffte, dass er ein Alpha war, wenn das auch eher unwahrscheinlich war, denn dafür war er eindeutig zu klein, schwach und anfällig für Krankheiten. Das war auch der Grund, warum seine Eltern ihn zwar mehr oder weniger aufzogen, aber wirklich um ihn kümmern taten sie nicht. Sam wurde vom Rudel erzogen. Er war immer der ersten und letzte im Rudelkindergarten gewesen und jetzt nach der Schule verbrachte er die meiste Zeit mit den anderen Jungwölfen beim Spielen im Dorf oder im nahen Wald. Nach Hause ging er nur zum Essen und zum Schlafen. Sam konnte sich kaum daran erinnern, dass seine Mutter oder sein Vater ihn einmal in den Arm genommen hatten. Ben, der ältere Nachbar, der sich hauptsächlich um Sam kümmerte, meinte nur, dass er ihnen nur Zeit geben müsste und dass nicht jeder dazu geboren sei, Kinder zu bekommen. Sam hatte es so hingenommen. Er wusste, tief im Innern liebten seine Eltern ihn. Nun saßen sie hier und warteten.
Mit acht Jahren ließ sich anhand des Blutes feststellen, zu welchem Rang ein Werwolf gehörte. Später in der Pubertät setzte jeder Werwolf Pheromone frei, die jedem zeigen, welcher Rang er innehatte. Aber so lange wollten die meisten Eltern nicht warten. So auch Sams Eltern nicht.
Plötzlich ging die Tür zum Behandlungszimmer auf und Sam schreckte hoch.

»Dann kommt mal«, sagte Dr. Alexander Martin freundlich lächelnd. Sams Vater schob seinen Sohn in den Raum und hob ihn auf die Behandlungsliege, während er und seine Frau sich auf die Stühle vor dem Schreibtisch des Arztes setzten.

»Also es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber ich wollte sichergehen, dass kein Fehler vorliegt«, begann der Arzt.

»Sichergehen? Warum?«, fragte Michael White sofort.

»Nun Sam ... also es hat sich rausgestellt, dass Sam ein ... ein Omega ist«, sagte Dr. Martin und sah zu dem Jungen, der ihm ängstlich entgegenblickte. Omega? Aber wie konnte das sein? Sam wusste, dass nur Frauen diesen Rang hatten. Omegas waren relativ selten, das wusste er auch und sie waren die rangniedrigsten Mitglieder im Rudel. Sams Herz begann zu rasen, seine Hände schwitzten und er blickte abwesend an die kahle Wand des Raumes.

»O-Omega? Das kann nicht sein, nur Mädchen haben diesen Rang«, sagte Kathrine White zitternd.

»Nun, das stimmt. Aber es gibt Ausnahmen. Männliche Omega sind sehr, sehr selten und etwas Besonderes«, sagte Dr. Martin.

»Besonderes? Sie sagen mir gerade, dass mein Sohn einmal einen männlichen Gefährten haben wird, was schon abartig genug ist und noch schlimmer mit diesem wird er dann Kinder bekommen! Er wird immer ein Schwächling bleiben und am Ende der Rudelhierarchie stehen und Sie sagen, er ist etwas Besonderes?«, donnerte Michael White jetzt.

»Hören Sie Michael. Ja, Sam ist besonders. Ja, er kann einmal Kinder bekommen und gerade deswegen ist er wichtig für das Rudel. Außerdem haben viel Omega besondere Fähigkeiten, warten wir es doch ab. Alles Wichtige zum Thema ‚Heat' und Medikamente, um die Pheromone zu unterdrücken, können wir gerne ein anderes Mal besprechen. Jetzt lassen Sie das erst einmal sacken und dann sehen wir weiter«, sagte Dr. Martin beschwichtigend.

»Wir werden gar nichts sacken lassen. Das da ist nicht mehr mein Sohn und basta!«, sagte Michael White und stand auf. Seine Frau folgte ohne ein Wort.

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, wir verstoßen ihn. Soll sich kümmern, wer will, aber wir sicher nicht mehr. Ein Omega, ich fass es nicht«, sagte Michael und stürmte nach draußen.

»Aber Kathrine, dass können Sie doch nicht machen. Ohne das Rudel überlebt Sam nicht lange und ...«

»Nein, ich stimmte Michael zu, es tut mir leid«, sagte sie, doch dabei sah sie nicht einmal zu Sam. Dieser saß noch immer auf der Liege. Er hörte Coda, seinen Wolf in ihm heulen. Tränen rannen seine Wangen hinab. Nun war er verstoßen worden und wenn nicht ein Wunder geschah, dann würde er bald irgendwo alleine im Wald zurechtkommen müssen.

VerstoßenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt