Kapitel 20

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Richard saß am Steuer seines Pick-Ups auf dem Weg in Richtung Shire-Rudel. Auf dem Beifahrersitz war Caleb Trim in einige Unterlagen vertieft. Sie hatten sich früh am Morgen auf den Weg gemacht und der kalte Oktobernebel kroch hier und da über die leere Straße. Sam und Jay hatte Richard die letzten drei Tage so gut wie nicht zu Gesicht bekommen. Sams erste Heat gemeinsam mit seinem Mate war ziemlich intensiv gewesen und vor allem sehr anstrengend. Zwischenzeitlich hatte Alexander, beiden jungen Männern Infusionen geben müssen. Nun war Sams Hitze aber vorbei und Jay und er hatten den gesamten vorherigen Tag geschlafen. Richard warf Caleb einen Seitenblick zu. Der Vorsitzende des Rates wirkte angespannt, während er durch die verschiedenen Berichte von Alexander, dem Arzt in Jackson und Richards Protokoll blätterte.

»Alles in Ordnung?«, wollte dieser wissen und Caleb seufzte.

»Mhm ... schon, aber so richtig weiß ich nicht, wie ich Cameron gegenübertreten soll. Ich mein, wenn man das alles liest, dann ... keine Ahnung. Wenn ich an meinen Sohn denke und mir vorstelle, dass ihm jemand all das ...«, er deutete mit der Hand auf die Akte. »All das angetan hätte, ich wüsste nicht, was ich tun würde«, schloss Caleb.

»Ich weiß, was du meinst. Aber wir müssen einen kühlen Kopf bewahren. Cameron wird nicht leicht zu knacken sein. Wir müssen strategisch vorgehen«, sagte Richard. Caleb nickte.

»Natürlich, du hast Recht. Es ist nur ... all das Unrecht, das den Omegas widerfährt. Manchmal fühlt es sich an, als würden wir gegen Windmühlen kämpfen.«

»Vielleicht, aber heute könnten wir einen Unterschied machen. Lass uns darauf konzentrieren«, sagte Richard, den Blick nicht von der Straße nehmend. Er lenkte den Pick-Up vorsichtig durch die letzten Kurven, die sie zum Shire-Rudel führen würden. Der Nebel hing schwer und undurchdringlich über der Straße, fast so dicht wie die Stimmung im Wagen. Caleb hatte die Unterlagen zur Seite gelegt und starrte gedankenverloren in die Ferne. Richard spürte, dass es an der Zeit war, das schwierigste Thema anzusprechen.

»Es gibt noch eine Sache ... Cameron als Rudelalpha abzusetzen, das wird keine leichten Wellen schlagen«, Caleb drehte sich zu ihm, sein Gesicht angespannt, die Stirn in Sorgenfalten gelegt.

»Ich weiß. Es ist ein riskanter Schritt. Aber nach allem, was passiert ist, ist es der einzige Weg, Gerechtigkeit für Sam zu schaffen«, Richard nickte langsam. Seine Hände umklammerten das Steuer fester.

»Aber die Frage ist, wie weit sind wir bereit zu gehen? Ein solcher Schritt könnte auch Krieg bedeuten«, sagte er. Die Schwere des Wortes »Krieg« hing zwischen ihnen. Der Gedanke an einen Konflikt zwischen den Rudeln war furchteinflößend. Sie beide wussten, dass es viele unschuldige Leben kosten könnte.

»Wir müssen alles tun, um das zu verhindern. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, Cameron zur Aufgabe zu bewegen, ohne dass es zu einem offenen Konflikt kommt. Wir müssen klug und diplomatisch vorgehen.«

»Es gibt noch eine Person, die wir nicht außer Acht lassen sollten ... Caden, Camerons Sohn«, Caleb blickte auf.

»Ja, Caden ... er könnte der Schlüssel sein. Wenn wir ihn auf unsere Seite ziehen könnten, könnte das den Übergang erleichtern und vielleicht sogar einen Konflikt vermeiden. Auf der anderen Seite scheint er die Ansichten seines Vaters zu teilen. Immerhin war er maßgeblich an den Misshandlungen beteiligt«, Richard nickte, seine Augen aufmerksam auf den sich entfaltenden Weg gerichtet.

»Aber er ist jung und offenbar teilt er vielleicht nicht alle Ansichten seines Vaters. Immerhin scheint er Sam nach dessen Heat versorgt zu haben und auch nach dem schweren Angriff seines Vaters auf den Jungen. Vielleicht sieht er ein, was auf dem Spiel steht und wie wichtig der Wandel ist«, Caleb lehnte sich sichtlich nachdenklich zurück.

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