Cara Mia

10

Als Julia am nächsten Tag nach Hause kommt, sitzt Matteo auf den Treppenstufen vor ihrer Wohnung. Er mustert sie besorgt. "Du siehst erschöpft aus, cara mia". Wortlos geht sie an ihm vorbei und schliesst ihre Türe auf. "Darf ich reinkommen, Julia? ... Bitte!" - "Was willst du, Matteo?", fragt sie müde, aber die Tür bleibt offen, so dass er ihr folgt. Julia geht in ihre Küche, lässt sich ein Glas Wasser aus dem Hahn, trinkt es aus und lehnt ihren Kopf an den Oberschrank. Matteo zögert kurz, dann stellt er sich hinter sie und beginnt ihre Schultern zu massieren. Zuerst verkrampft sich Julia unter seiner Berührung, doch er schafft, dass sie lockerlässt. "Gut?", fragt er nach einer Weile leise. "M-hm". Matteo findet viele Verspannungen und löst eine nach der anderen, froh darüber, dass sie seine Berührungen zulässt. Schließlich gibt er ihr einen Kuss auf den Hinterkopf und geht einen Schritt zurück.
Julia sammelt sich kurz, dann dreht sie sich um. "Warum bist du hier? Woher weißt du überhaupt, wo ich wohne?" - "Daniel" - "Daniel?" - "Ja. Er ist dein Schatten, schon vergessen? Er lässt dich nie aus den Augen - außer er bekommt von mir eine andere Anweisung" - "Aber ... ich hab nichts gemerkt!" - "Ja, er ist gut". Schmunzelnd schaut er sie an, doch ihr Blick ist unergründlich. Er greift nach ihren Händen und hält sie fest. "Julia, es tut mir leid. Ich habe viel nachgedacht die letzten Tage. Sogar meine Geschäfte waren unwichtig. Ich hätte dich nicht so wegschicken dürfen. Was ich gesagt habe war absolut unfair. Ich habe dich bestraft, obwohl ich nicht mit meinen Gefühlen klar kam. Was du mir da an den Kopf geworfen hast ... du hast in jeder Hinsicht recht. Ich bin hart geworden, vielleicht sogar härter als mein Vater. Du hast das sofort durchschaut und es mir ins Gesicht gesagt. Du bist eine der wenigen Personen, die sich das traut und das hat mir Angst gemacht. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll ... und habe dich weggestossen. Und es sofort bereut. Aber du warst mit Daniel schon unterwegs. Es tat weh, als du auf meine Nachrichten nicht reagiert hast. Ich liebe dich, Julia, und ich will dich nicht nochmal verlieren. Ich weiß, dass ich an mir arbeiten muss, damit ich dir die Wärme und Liebe geben kann, die du verdienst. Du bist alles für mich, Schatz. Bitte, gib mir ... gib uns noch eine Chance". Er hebt ihre Hände an seine Lippen und küsst sie sanft, sucht ihren Blick, der zu Boden gerichtet ist.
Lange schweigt Julia, doch als sie ihn endlich ansieht, trifft ihn der Schmerz in ihren Augen mit voller Wucht - der gleiche Schmerz wie am ersten Tag, als er sie im Club wiedergesehen hat. "Und wenn ich wieder etwas sage, was dir nicht passt? Dann spielen wir das gleiche Spiel wieder? Matteo, ich bin zu alt für sowas. Ich war zwar allein die letzten Jahre, aber ich war mit mir im Reinen. Ich musste nicht aufpassen, was ich wann zu wem sagte. Ich bin so ... ich sage, was ich denke, was ich fühle. Ich kann das nicht ...". Matteo schüttelt den Kopf. "Mach das nicht, bitte! Julia ... was fühlst du jetzt, grade in diesem Moment?" Tränen schimmern in ihren Augen. "Ich liebe dich, Matteo, ich habe dich immer geliebt. Aber ich kann mich nicht für den Rest meines Lebens verstellen" - "Das sollst du doch gar nicht. Aber wir können uns doch irgendwo in der Mitte treffen. Reden, wenn uns was nicht passt. Die Ansichten des Anderen anhören. Ich weiß, dass du immer alles allein regeln musstest, genau wie ich, aber genau das macht uns zusammen noch stärker". Er legt ihre Hand auf seine Brust. "Hier drin warst immer nur du, Julia. Egal, wie oft ich mit Maria oder später anderen Frauen geschlafen habe, mein Herz gehörte immer nur dir. Du warst der erste Gedanke am Morgen und der letzte vor dem einschlafen. Was kann ich tun, damit du mir glaubst?" - "Ich weiß es nicht", flüstert Julia. "Okay ... ich hab viel Geduld, weißt du?", schmunzelt Matteo, "und jetzt auch keinen mehr, der mir vorschreibt, was ich tun soll. Lass uns langsam anfangen,  tesoro. Hast du heute Abend schon was vor?" - "Ich hab grad eine Acht-Stunden-Schicht hinter mir, ich bin hundemüde, Matteo" - "Okay ... hm ... Lieferdienst?" Ungläubig schaut Julia ihn an. "Oder soll ich Mauro einfliegen lassen?" - "Spinnst du? Mauro hier? Das beleidigt deinen Koch. Ich war nur überrascht, dass das Wort 'Lieferdienst' überhaupt in deinem Wortschatz vorkommt. Hier um die Ecke ist eine kleine Trattoria, die auch liefert. Wart mal ..." Julia geht zu einer Pinnwand hinter der Küchentür und nimmt eine Speisekarte herunter. "Hier ... ich nehm Rigatoni al Forno und einen kleinen gemischten Salat. Kümmerst du dich drum? Dann geh ich in der Zwischenzeit duschen" - "Julia?" Julia, die schon halb aus der Küche ist, dreht sich um und landet in Matteos Umarmung. "Danke!" Zärtlich streifen seine Lippen ihren Mundwinkel, bevor er ihr einen Kuss auf die Stirn gibt und sie wieder loslässt.

Während Matteo sich von den Gedanken an die Frau, die er liebt und die nebenan duscht und der er am liebsten Gesellschaft leisten würde, losreisst, indem er die Schränke nach Geschirr durchsucht und den kleinen Tisch in der Küche deckt, denkt Julia intensiv nach. Ihr Herz schreit ganz laut JA, aber ihr Kopf mahnt zur Vorsicht. Sie denkt zurück an die Zeit, als sie ein junges Paar waren ... auch damals gab es Meinungsverschiedenheiten, die sie durch Gespräche ausgeräumt haben. Mit dem Wissen von heute sieht sie alles ein bisschen anders ... Matteo kam nicht gegen seinen Vater an, so sehr er das auch wollte. Die Familie ging immer vor, es gab Anzeichen, die weder sie noch Matteo ernst genommen hatten. Seine Mutter hatte Julia öfter gewarnt, sie solle sich nicht zu sehr verlieben, weil sie keine Zukunft haben würden. Im Nachhinein wird Julia klar, dass sie beide blind waren - Matteo dachte nie, dass seine Meinung nichts wert wäre, und Julia? Julia wusste nicht, zu welcher Familie Matteo gehörte. Vermutlich hätte sie sich sonst von ihm ferngehalten.
Und jetzt? Es gibt keine Eltern mehr, die ihm etwas vorschreiben könnten. Seine Söhne? Haben die Einfluss auf ihn? Könnten sie wirklich eine Zukunft haben, wenn sie beide an sich arbeiten?