16

71 3 0
                                    

Erleichtert lässt sich Julia in ihrem Abteil auf einen Sitz plumpsen. Im Moment sitzt sie allein, die meisten Leute fahren um diese Zeit in eine andere Richtung. Julia ist viermal umgestiegen, um etwaige Verfolger abzuschütteln, auch ihre Jacke und Hose hat sie gewechselt, ihre Haare hochgebunden und unter einer Cap versteckt, zusätzlich trägt sie eine riesige Sonnenbrille. Als sie sich auf der letzten Toilette im Spiegel betrachtet hat, musste sie fast lachen ... doch dann wurde ihr wieder bewusst, warum sie das macht und Trauer und Wut wechselten seitdem im Sekundentakt. Julia sieht draußen die Landschaft vorbeiziehen und ihre Gedanken rasen genauso. Mira war nur schwer zu überzeugen, dass es ihr gut geht und sie nur eine Auszeit nimmt. Das war schon immer so - ihre Tochter wusste, wann sie belogen wird. Und ihre Kolleginnen waren echt sauer. Verständlich, weil sie ja erst vor kurzem ein paar Wochen wegen der Beerdigung nicht da war. Plötzlich wird ihr die Ironie der Situation bewusst - Matteo wollte auch, dass sie sofort nicht mehr arbeitet und mit ihm kommt, und sie hatte sich gesträubt. Und jetzt? Ist sie genau da, wo sie nicht hin wollte, nur mit dem Unterschied, dass sie allein ist. Vollkommen auf sich gestellt, aber mit einem vermutlich sehr, sehr wütenden Matteo hinter sich, der sie irgendwann aufstöbern wird, da gibt sie sich keiner Illusion hin. Julia denkt viel nach in den Stunden, in denen sie in verschiedenen Zügen und auf der Fähre sitzt, schläft zwischendurch unruhig und steigt am nächsten Vormittag total erledigt in Kristiansand aus.

Julia orientiert sich kurz, sie war vor Jahren das letzte Mal hier und es hat sich viel verändert. Sie fragt einen vorbeihastenden Norweger nach einer bestimmten Straße, und er erklärt ihr in relativ gutem Deutsch den Weg. Julia bedankt sich und macht sich auf den Weg - trotz des Hinweises, dass es lange dauern wird, zu Fuß.
Müde steht sie eine gute halbe Stunde später vor ihrem Ziel. Mittlerweile fragt sie sich, ob es tatsächlich eine gute Idee war hierherzukommen. Doch sie gibt sich einen Ruck und klingelt bei Andersen. Als sich nichts tut, versucht sie es nochmal, aber es gibt keine Reaktion. Verzweifelt lässt sie sich auf die Stufen vor dem Haus fallen und ein paar Tränen rollen ihr übers Gesicht, als sie ihren Kopf in den Armen verbirgt. Magnus war ihre letzte Hoffnung, jetzt weiß sie nicht, wohin. Julia sitzt lange so da, bis sie Schritte hört, die vor ihr stoppen. "Kan jeg hjelpe deg?", hört sie eine tiefe Männerstimme fragen und sie schüttelt den Kopf. "De blir kalde hvis de sitter her", sagt der Mann und schließlich hebt Julia den Kopf. Der Mann blinzelt sie überlegend an, dann huscht Erkenntnis über sein Gesicht. "Julia?", fragt er zögernd, grinst aber sofort. "Tatsächlich! Julia!" Er zieht sie hoch und umarmt Julia, um sie gleich wieder von sich zu schieben. "Was machst du hier? Bist du allein? Warum weinst du? Ach Mist, sorry.  Komm erst mal rein!" Magnus nimmt Julias Rucksack und ihre Hand und zieht sie ins Haus und in seine Wohnung. Dort nimmt er ihre Jacke ab und mustert sie besorgt. "Also, nochmal von vorn. Hei, Julia, schön, dass du da bist!" Jetzt lächelt Julia, die grade ziemlich überrumpelt wurde. "Hey Magnus" - "Dir ist kalt, oder? Komm, ich mach uns Tee und dann erzählst du mir, warum du hier bist". Julia folgt ihm in die Küche, in der es mollig warm ist und setzt sich an den Tisch. Schnell steht eine dampfende Tasse vor ihr und Magnus setzt sich ihr gegenüber und betrachtet sie lange. "Also, Julia, was treibt dich nach Norwegen?" - "Ich ... wollte dich sehen". Magnus hebt seine Augenbrauen. "Schön für mich ... aber ich glaube dir kein Wort. Du siehst unglaublich gestresst aus, Julia" - "Du hast mal gesagt, deine Tür steht immer für mich offen ..." - "Natürlich!" - "Ich hab ... ein Riesenproblem" - "Okay?" - "Ich weiß gar nicht, wie ich das erklären soll". Magnus lässt ihr Zeit, er kennt Julia seit dem Studium in Berlin, wo er seine Assistenzzeit im gleichen Klinikum gemacht hat, wo sie gearbeitet hat. Sie waren nie ein Paar, aber sehr gute Freunde, die sich nie aus den Augen verloren haben und er weiß, dass sie sich ihm anvertrauen wird, wenn sie soweit ist. Es muss etwas Gravierendes sein, denn sie wäre sonst nie ohne Vorankündigung  hierhergekommen. Schließlich holt Julia tief Luft. "Kannst du dich noch an Matteo erinnern?" - "Den verschwundenen Vater von Mira? Ja klar" - "Naja ... eigentlich ... war ich verschwunden". Magnus runzelt die Stirn. "Ich wurde damals von seinem Vater weggeschickt, weil ich nicht zur Familie passe. Damals wusste ich nicht, dass ich schwanger war. Und als ichs dann rausgefunden habe ... ich konnte nicht zurück. Wir haben uns vor ein paar Wochen wieder getroffen. Ich hab ihm von seiner Tochter erzählt, er ist Witwer und hat zwei erwachsene Söhne, er ... ich ... wir sind ... waren ... ach Scheiße!" Magnus greift über den Tisch nach ihren immer noch eiskalten Händen. "Was ist los, Kleines?", fragt er sanft und bei Julia brechen alle Dämme und sie lässt die Verzweiflung der letzten Stunden heraus. Erschrocken steht Magnus auf, geht zu ihr und zieht sie in seine Arme, gibt ihr den Halt, den sie gerade braucht und lässt sie einfach weinen. Irgendwann beruhigt sie sich etwas und er drückt sie nochmal kurz. "Gehts wieder?" Seine Stimme wirkt beruhigend auf Julia, die nickt. "Entschuldige, ich bin ..." - "Hör auf, Julia. Ich will keine Entschuldigung von dir, weil du Kummer hast, okay?!" - "Ja ... Matteo und ich wollten es nochmal versuchen und dann wurde er angeschossen ... mitten in Berlin ... vor meiner Haustür" - "Was?" - "Er war ziemlich stark verletzt, ein Arzt hat ihn dann versorgt. Und dann meinte er, ich muss mit ihm kommen" - "Okay ... warum? Ich mein, weiß er, wer geschossen hat oder war er ein Zufallsopfer?" - "Magnus ... er ist ein Don, ein Mafiaboss" - "Bitte WAS?" Aufgeregt beginnt er, im Zimmer auf und ab zu marschieren, dann wendet er sich zu Julia. "Kleines, du weißt, ich helf dir gern und du kannst hierbleiben, solange du willst ... aber du musst ihm Bescheid geben, dass es dir gut geht. Dieser Mann wird alle Hebel in Bewegung setzen um dich zu finden und ich garantiere dir, das wird er! Und ich möchte ungern zwischen den Fronten stehen" - "Ich weiß". Julias Stimme ist leise. "Darf ich bitte eine Nacht hier schlafen? Ich bin ... ich kann nicht mehr. Ich kann ihm nicht gegenübertreten ... noch nicht. Bitte!" - "Natürlich. Ich richte dir das Gästezimmer her. Du kannst inzwischen duschen. Wir reden morgen weiter, okay?" - "Ja ... danke Magnus!"

Cara MiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt