Kapitel 1

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Verzweifelt sprintete ich dem Zug hinterher, der gerade an mir vorbei zog.  Meine blonden Locken wehten mir im Fahrtwind ins Gesicht. Natürlich hatte sich der Zugfahrer nicht erbarmt und nochmal die Türen geöffnet, nachdem meine Straßenbahn verspätet am Bahnhof angekommen war. 

Wütend blieb ich stehen und wählte die Nummer meiner Chefin.

"Hey, Fiona hier. Ich habe leider meinen Zug verpasst. Könnt ihr mein Ticket für den nächsten Zug umbuchen?", fragte ich reumütig.

Zwar hatte ich ein super Verhältnis zu meiner Vorgesetzten, aber natürlich war mir der Anruf dennoch sehr unangenehm. Die verfluchte deutsche Bahn, machte mich wahnsinnig. Nie konnte man sich auf die Abfahrzeiten verlassen.

"Oh weh Fiona, das fängt ja gut an. Du weißt, dass du direkt um 19 Uhr die Eröffnungsveranstaltung hast? Dann fahr direkt zur Location und ich organisiere dir da einen Raum zum umziehen. Dann musst du nachts im Hotel einchecken.", antwortete meine Chefin Kathrin

"Ja, kein Problem. Danke dir."

Vor einem Jahr hatte ich mein BWL-Studium abgeschlossen und arbeitete jetzt in der Buchhaltung eines großen Konzerns. Obwohl der Job dem meisten Leuten trocken erscheint, mochte ich ihn sehr gerne. Ich hatte super lieber Kollegen und verstand mich selbst mit meiner Chefin sehr gut. Nach einem Jahr wurden die neuen Mitarbeiter der Führungsebene nach Berlin in unsere Hauptfirmenzentrale eingeladen. Dort wurde man der Firmenleitung auf einem großen Ball vorgestellt und erhielt in den folgenden Tagen eine Führung durch die Zentrale und nahm an einigen Meetings und Fortbildungen Teil. 

Jeder Standort durfte einen Mitarbeiter entsenden und meine Chefin hatte mich für den Standort Köln empfohlen. Diese Möglichkeit durfte ich mir nicht entgehen lassen. Das würde mein Karriere ein großes Stück voran treiben und das war mein Ziel. 

Für meine 23 Jahre war ich schon ziemlich weit gekommen und die Einladung nach Berlin kam einer ersten Beförderung gleich. Um so wütender war ich auf mich selbst, dass ich nicht eine Straßenbahn eher genommen hatte. Normalerweise dachte ich immer daran, einen Puffer einzuplanen. 

Aber die Straßenbahn hatte eigentlich nie Verspätung und wann kam ein Zug schonmal pünktlich? Gerade ein ICE am Nachmittag war niemals pünktlich. Aber gerade heute war die Welt verkehrt.

Ich hatte auch eigentlich vorgehabt die frühere Straßenbahn zu nehmen, aber mein Freund  Luca hatte sich extra den Morgen freigenommen, um noch etwas Zeit mit mir verbringen zu können. Also hatten wir den Morgen noch länger im Bett verbracht und ich hatte mich daraufhin verzettelt.

Ich hatte Luca zu Beginn meines Studiums kennengelernt und es hatte sofort gefunkt. Zuerst waren wir nur befreundet, aber Stück für Stück hatte er mit seiner liebevollen Art mein Herz erobert. Und das war damals eine Mammutaufgabe gewesen, denn zuvor hatte mir meine Jugendliebe mein Herz in alle Einzelteile zerbrochen. Mittlerweile waren wir seit drei Jahren zusammen und vor einem Jahr dann auch endlich zusammengezogen und ich könnte nicht glücklicher darüber sein.

Unser Beziehung war wirklich perfekt, wir teilten die gleichen Interessen und waren auf einer Wellenlänge. Es war einfach harmonisch und bei ihm fühlte ich mich wie der schönste und beste Mensch der Welt. Er brachte die besten Seiten in mir zum Vorschein und motivierte mich jeden Tag mein Bestes zu geben.

Alles in allem eine sehr gesunde Beziehung, im Gegensatz zu meiner ersten Beziehung, meiner Jugendliebe.

Damals war ich jung und naiv und wusste es nicht besser. So war ich in eine ziemlich toxische Beziehung mit himmlischen Hochs und katastrophalen Tiefs geraten. 

Noch immer musste ich manchmal an Henry denken. Immer wenn ich es nicht erwartete, schlich er sich in meine Gedanken und das obwohl ich mittlerweile wusste, wie schrecklich diese Beziehung gewesen war.

Wir hatten uns mit 16 kenngelernt und waren bis zu meinem 18. Lebensjahr in einer on/off Beziehung. Nachdem wir dann mit 18 nach dem Abiball unser erstes Mal geteilt hatten, hatte er mich ohne ein weiteres Wort sitzen lassen und die Beziehung beendet.

Ich hatte mich so dreckig und benutzt gefühlt, sodass ich danach den Männern erstmal abgeschworen hatte.

Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen und war alleine von München nach Köln gezogen. Weit weg, um ihn nie wieder sehen zu müssen.

Dennoch stalkte ich ab und an noch seinen Instagramaccount, aber sein Leben schien ohne mich sehr gut zu verlaufen. Doch ich konnte mich auch nicht beschweren. Auch wenn ein Teil von mir noch immer Henry hinterhertrauerte, wusste ich, dass alles richtig verlaufen war.

Ich bereute keine meiner Entscheidungen, denn letzten Endes hatten sie mich hier hin gebracht und ich konnte erkennen, dass es auch noch von Herzen gute Männer gab. Man musste ihnen nur eine Chance geben. Es war, wie meine Oma immer zu sagen pflegte.

Gegensätze ziehen sich an, aber Gemeinsamkeiten hielten fest und Henry und ich hatten definitiv nicht genug Gemeinsamkeiten. Das wusste ich jetzt.

Mit der von Luca gepackten Brotdose setzte ich mich auf eine Bank am Gleis und blickte in den bewölkten Sommerhimmel.

In einer Stunde würde mein nächster Zug kommen, also packte ich meine Kopfhörer aus und wählte meine Lieblingsplaylist aus, während ich genüsslich in mein belegtes Brot biss und mein Frühstück nachholte. Danach nahm ich meinen Laptop aus meiner Tasche und fing an noch etwas zu arbeiten. Obwohl ich für die drei Tage freigestellt war, bekam ich trotzdem Mails, die ich jetzt noch beantworten konnte. Zwar trennte ich meine Freizeit klar von der Arbeit, aber ich hasste es auch Zeit zu verschwenden und die Stunde konnte ich jetzt nutzen, um wenigstens etwas produktiv zu sein.

Währenddessen beobachtete ich die geschäftigen Leute auf den anderen Gleisen. Einige sprinteten noch in der letzten Minute zur Bahn und erwischten sie noch. Wieder Andere blieben genauso enttäuscht zurück, wie ich.  

Dann checkte ich nochmal meine Ticketdaten und wechselte mit meinem handlichen, blauen Koffer das Gleis und hoffte darauf, dass die Fahrt ohne größere Verspätung vonstatten gehen würde. 

Als dann der Zug endlich einfuhr, suchte ich mein richtiges Abteil in der ersten Klasse und machte es mir für die nächsten Stunden gemütlich.


Lunas Chosen OneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt