Kapitel 6.1

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Wieder zurück im Schloss war Lina zwar froh, den ersten gefunden zu haben, doch sie war sich unsicher, ob nicht doch noch einer hier war. Es gab hier verdammt viele Männer und der Kompass spielte noch immer verrückt. Daher wollte sie die Gegenden, in denen er ausgeschlagen hatte, noch einmal kontrollieren.

Es war zwar schon recht spät am Abend und einige Tage nachdem sie Rathan gesagt hatte, dass er Teil der Prophezeiung war, doch sie wollte es nicht weiter hinauszögern. Daher begab sie sich auch mit schnellen Schritten zu den Stallungen.

Es war bisher der einzige konkrete Ort, an dem der Kompass verrücktgespielt hatte. Irgendwas musste dort also vor sich gehen. Kivan stand auch noch immer unter Verdacht. Vielleicht hatte er sich bereits so lange in den Stallungen aufgehalten, dass seine Aura an dem Bereich verfestigt war? Die Lösung war zwar weit hergeholt, doch Lina war verzweifelt genug, um dem eine Chance zu geben.

Es könnte allerdings jeder sein, der dort arbeitete. Vom Stallmeister zu sämtlichen Stallburschen. Bisher kannte sie jedoch nur Kivan und würde wohl auch bei diesem anfangen, bevor sie die anderen in Betracht zog.

Sie konnte sich nicht darauf verlassen, dass es so einfach sein würde wie bei Rathan. Andererseits hatte sie nun einen Vorteil, weil sie wusste, dass ihr Mentor Recht hatte. Lorian De Revier hatte acht Söhne. Und genau diese musste sie finden. Sie mussten also mit Rathan verwandt sein.

Wie immer war mal wieder viel los, als Lina die Stallungen betrat. Jeden Tag gingen die verschiedensten Leute ein und aus, was es nur noch schwieriger machte, jemand verdächtigen zu bemerken.

Sie entschied sich dazu, mit Kivan zu sprechen. Vielleicht konnte sie so herausfinden, ob er seinen Vater kannte. Wenn nicht, war das ein gutes Zeichen.

Daher hielt sie auch Ausschau nach dem jungen Mann, versuchte aber gleichzeitig, nicht im Weg zu sehen.

Sie erblickte ihn draußen hinter den Ställen, wo er neben einem riesigen Hirsch stand, den er striegelte. Das majestätische Tier kaute dabei genüsslich auf einigen Blüten herum und schien mehr als hoheitlich sein Geweih in der strahlenden Sonne zu präsentieren.

Lina trat ehrfürchtig auf die beide zu. „Was für ein wundervolles Tier", flüsterte sie erstaunt über diesen Hirsch. Er war so majestätisch, dass sie kaum wegsehen konnte.

„Nicht wahr?", meinte Kivan amüsiert und strich weiter mit der Bürste über das rotbraune Fell, welches goldene Fellzeichnungen aufwies.

„Ist es immer deine Aufgabe, den Hirsch zu striegeln?", fragte sie und hatte das Bedürfnis das Geweih zu berühren. Wie es sich wohl anfühlte?

Es wirkte irgendwie hölzern, doch hatte sie keinen Zweifel daran, dass man mit einer dieser goldenen Spitzen jemanden würde aufstießen können.

Kivan wiegte den Kopf mit einem Lachen. „Sozusagen. Ich bin nicht der Einzige, aber er lässt sich auch nicht von jedem anfassen."

„Wirklich?", fragte Lina überrascht. „Gehört er dem König?", wollte sie wissen. Wer sonst würde ein so edles Tier reiten können?

Kivan machte einen zweifelnden Laut. „Ich meine ... an sich gehört doch alles irgendwie dem König", wich er aus, doch recht hatte er natürlich.

Lina runzelte bei seinen Worten die Stirn. „Schon irgendwie, aber ich dachte, dass die Tiere vielleicht zwischen den Mitgliedern der Familie aufgeteilt sind", sagte sie und hoffte, dass er ihr sagen würde, wer den Hirsch sonst ritt.

„Manche schon, aber ...", begann Kivan, der sich scheinbar schwertat eine Erklärung zu finden.

„Aber dieses Exemplar hat sich eines Tages einfach im Schlossgarten verlaufen und seitdem ist es hier", beendete der Prinz den Satz und gesellte sich zu den beiden, wobei er Lina mit einem oberflächlichen Lächeln musterte. „Ich hörte, Ihr interessiert Euch für meinen Greif?"

„Eure Hoheit", sagte sie und knickste leicht. „Entschuldigt, wenn mein Interesse an Eurem Greif sich nicht gehört, aber er ist so ein wunderschönes Tier, dass ich nicht anders konnte, als ihn genauer anzusehen." Lina hielt den Blick gesenkt und fühlte sich unter seinen Blicken immer nervöser.

Kivan verneigte sich ebenfalls, doch tat der Prinz es lediglich mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Nein, wieso denn. Es ist ein hübsches Tier und seien wir ehrlich, eher ein Prestigeobjekt."

„Meint Ihr?", fragte Lina überrascht. Einen Greif hätte sie mehr als eine Waffe als ein Prestigeobjekt eingestuft. Aber sie sah viele Dinge anders.

„Ich meine es nicht, ich weiß es. Sonst würde ich es doch kaum sagen, oder?", erwiderte der Prinz mit hochgezogener Augenbraue.

„Ich weiß, dass Greife in anderen Gebieten als Reittiere für den Kampf genutzt werden, daher hätte ich nicht damit gerechnet, dass es hier nur als Prestigeobjekt gesehen wird. Oder sprachen wir gerade über den Hirsch?"

Der Prinz schüttelte den Kopf. „Andere Reiche, andere Sitten. Ich dachte, sowas lernt man als internationale Gelehrte", meinte er nun unschuldig und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust.

„Natürlich, aber trotzdem verstehe ich manchmal nicht, warum die Unterschiede gemacht werden", gestand sie. „Könntet Ihr mir erklären, warum es bei Euch gerade so ist? Ich komme selten dazu, in diesem Bereich Informationen zu sammeln. Es würde meinen Unterricht bereichern."

Sie schielte kurz zu Kivan, welchem sie ansah, dass er zwar die Ohren spitzte, sonst aber versuchte sich unbeteiligt zu geben. Vermutlich die klügere Entscheidung, wenn man an seiner Arbeit hing.

„Da würde die Königin Euch sicher mehr Auskunft geben können, wenn sie wöllte, doch ich werde mein Bestes geben. Hättet Ihr denn derweil Zeit für einen kleinen Ausritt?", fragte er mit einem einladenden Lächeln und streichelte den muskulösen Hals des Hirsches. Dieser schüttelte die Hand des Prinzen jedoch gleich mit einem protestierenden Schnauben von sich.

Das zeigte Lina, dass dieser wohl wirklich nicht von jedem angefasst werden wollte. 

Mondmagie - Windfall - Band 1 - BEENDETWo Geschichten leben. Entdecke jetzt