Kapitel 6.4

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„Kein Wunder, dass es bei Euch so friedlich ist. Ich schätze Nahrung zieht nicht so viele Neider an wie Seidenstoffe."

Zweifelnd wiegte er den Kopf und gab einen wenig überzeugten Laut von sich. „Das würde ich nicht behaupten, doch da wir gewillt sind unsere Güter zu teilen, haben die anderen Reiche wenig Grund für Krieg ... außer sie sagen irgendwann, sie wollen diese Einkommensquelle für sich beanspruchen."

„Das könnte immer möglich sein, ist aber eher unwahrscheinlich", murmelte Lina, die den Ritt sichtlich genoss. Sie sah sich neugierig um, weil sie sich bereits auf die Felder zubewegte.

Ihr Reittier wurde immer unruhiger, umso näher sie den Ebenen kamen, als würde es förmlich darauf brennen loszurennen und nicht mehr anzuhalten.

„Der Meloceros scheint wirklich Lust zu haben, schneller zu rennen", bemerkte sie leise und tätschelte das Tier beruhigend.

Auf ihre Aussage schielte der Prinz zu Lina und dem Hirsch und hob abschätzig eine Augenbraue. „Er ist einfach schrecklich unerzogen. Das ist alles."

„So kann man es natürlich auch sagen", lachte Lina leise. „Aber ein kleines Wettreiten wäre doch sicher interessant, oder was denkt Ihr?", wollte sie wissen und konnte es kaum erwarten.

Belustigt lachte der Prinz über diesen Vorschlag, schien jedoch nicht unbedingt abgeneigt. „Ist das nicht etwas kindisch für eine erwachsene Frau?"

Lina lachte leise. „Vielleicht, aber manchmal muss man das Leben einfach genießen", sagte sie und hoffte, ihn damit animieren zu können. Sie wollte ein bisschen Spaß haben.

Und hoffentlich würde auch der Hirsch sich danach beruhigen können, dieser klopfte schon voller Erwartung die Hufe auf dem Boden. Doch noch bevor sie die Antwort des Prinzen hören konnte, sprintete das Tier auch schon los und veranlasste Lina dazu einen spitzen, überraschten Aufschrei von sich zu geben. Sie hatte Mühe sich an den Meloceros zu klammern, da es nun doch ein wenig anders war, als ein Pferd zu reiten. Das Tier sprang regelrecht in die Höhe und legte in nur wenigen Sekunden schon mehrere 100 Meter hinter sich.

Nach Luft schnappend, krallte sich Lina fest, während sie förmlich durch die Höhe flogen. Das Tier sprang viel höher, als sie erwartet hatte und schien auf so etwas wie unsichtbaren, magischen Plattformen zu laufen.

Immer wieder ging ein starker Ruck durch ihren Körper und peitschte ihr die Haare unangenehm ins Gesicht, als der Meloceros erneut auf dem Boden aufkam.

Lina keuchte leise und versuchte nicht zu fallen. Es hatte sie ganz schön durchgeschüttelt und sie hoffte, dass es endlich ruhiger wurde, damit sie sich wieder entspannen konnte.

Mit einem Mal kam das Tier zum Stehen und schlitterte bei der aufgenommenen Geschwindigkeit sogar einige Meter über den Grasboden und pflügte tiefe Furchen in den Boden. Endlich war es vorbei und Lina konnte Luft holen und sich wieder neu orientieren.

Ihr Körper zitterte, während sie noch immer nicht ganz glaubte, dass sie nun endlich standen. „Himmel", keuchte sie leise und blickte sich kurz um. Wo war sie und wo der Prinz? Sie hatte irgendwie die Orientierung verloren.

Lina erkannte in einiger Entfernung nur weite Felder und einen kleinen Punkt, der vielleicht das Schloss sein sollte. Sie konnte es wirklich nicht sagen. Auf dem Feld war sie zumindest nicht mehr, da sie am Anfang einer Obstbaumplantage stand, welche die Luft mit einem wunderbar, süßlichen Duft erfüllte.

Lina ließ nur langsam etwas lockerer, bevor sie das Tier tätschelte. „Was hast du denn gemacht?", fragte sie mit belegter Stimme. „Wo sind wir hier?" Ihr war klar, dass der Hirsch ihr nicht antworten würde.

Das Tier stampfte nur stolz auf dem gepflügten Boden und reckte das Geweih in die Höhe, als würde es noch immer auf seine Lobeshymne warten, die es sich verdient hatte.

Lina lachte leise. „Du bist wirklich unglaublich schnell", sagte sie und tätschelte ihn erneut. Sollte sie wirklich von hier fliehen müssen, sollte sie den Meloceros nehmen. Mit ihm würde sie alle anderen abhängen.

Als würde er ihr beipflichten wollen hob und senkte er den Kopf und drehte sich zu den Plantagen, um sich einem Baum zu nähern und einige Kirschblüten von einem Baum zu futtern. Ob das erlaubt war, war jedoch fraglich.

„Ich glaube nicht, dass du das darfst", sagte Lina, die versuchte ihn von den Kirschblüten zu den Blumen am Boden zu lenken. Diese wären sicherlich besser. Damit konnte er keine Früchte kaputt machen.

Doch das Tier rührte sich kein Stück und kaute weiter gemütlich auf seiner Beute herum.

Lina seufzte leise und sah wieder zurück. Ob der Prinz ihr folgte? Sie wusste immerhin nicht, wo sie war und was sie tun oder wie sie gar zurückkehren sollte.

Weil sie nichts erkannte, wandte sie sich wieder der Obstplantage zu. Es gab hier Kirschbäume, aber in der Ferne erkannte Lina auch noch andere Bäume. Es sah sehr schön aus. Alles war sehr genau gepflanzt und stand in voller Blüte. „Das hier muss für dich ein Futterparadies sein", lachte sie leise, spürte aber noch immer ihre Beine etwas zittern. Sie versuchte im Grunde nur den Schreck zu überspielen.

Doch zumindest lenkte es sie irgendwo von der Zeitverschwendung ab, die sie hier veranstaltete. Eigentlich sollte sie am Hof sein und nach den Söhnen suchen. Oder um genauer zu sein, herausfinden, ob Kivan einer von ihnen war.

Damit sie sich nicht ganz so schlecht fühlte, holte sie den Kompass heraus und betrachtete diesen. Vielleicht schlug er hier aus. Immerhin wusste sie nicht, ob es hier nicht vielleicht auch Männer gab. Sie sah zwar niemanden, doch sicher war sicher.

Tatsächlich wirbelte die Kompassnadel wild umher. Wenn sie ihren Mentor richtig verstanden hatte, hieß es, dass ein Sohn oder mehrere Söhne ganz in der Nähe sein sollten.

Das machte sie nervös, denn sie wusste nicht, wo hier Männer waren. Den Prinzen hatte sie ausgeschlossen, doch je mehr sie sich umsah, desto deutlicher wurde, dass außer ihr hier niemand war. Nur der Prinz, der sich in der Ferne näherte.

Sie seufzte leise und steckte den Kompass wieder weg. Das war nicht hilfreich. Der Prinz konnte es unmöglich sein! Das wollte sie nicht glauben. Womöglich versteckte sich hier noch jemand anderes, den sie nur nicht sah.

„Fruchtbarer Boden ist in den meisten Gebieten ein rares Gut", bemerkte sie mit einem Lächeln.

Langsam kam der fliegende Greif auf sie zu und wirbelte die Luft auf, als er einige Meter entfernt von ihr auf den Ebenen landete.

„Bitte entschuldigt", sagte Lina mit einem schiefen Lächeln. „Er ist einfach durchgebrannt." Sie spürte, dass diese Sache ihr peinlich war und das dafür sorgte, dass ihre Wangen rot wurden.

Der Knoten, in welchem der Prinz sein Haar normalerweise trug, war durch den Flug ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Bei dem Anblick wollte Lina lieber gar nicht wissen wie sie vermutlich aussah. Vermutlich würde sie nun Vögel auf ihrem Kopf beheimaten können, bei dem Nest was sich dort gebildet hatte.

Vielsagend hob der Prinz eine Augenbraue und steuerte den Greif auf sie zu. „Ich sagte doch ... unerzogen."

Lina nickte zustimmend. „Ich schätze, dass man ein solches Wesen gar nicht so leicht erziehen kann. Vermutlich hört er auf niemanden", stellte sie fest, kam aber nicht umhin weiterhin Faszination für das Tier zu empfinden.

Mondmagie - Windfall - Band 1 - BEENDETWo Geschichten leben. Entdecke jetzt