Kapitel 19

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Ein ohrenbetäubendes Knallen erschütterte den Hof, was ein hochfrequentes Piepen in Linas Ohr auslöste, gefolgt von dichten Rauchschaden, die sich langsam, aber sicher über eine große Reichweite des Hofes erstreckten. Sie eingeschlossen. Lina konnte kaum die Hand vor Augen erkennen.

Sie kannte diese alchemistische Reaktion. Immerhin hatte sie diese selbst zubereitet. Aber dieses Ausmaß? Die Menge war wesentlich größer als sie erwartet hatte.

„Lina!", hörte sie Kivans Stimme aus der Ferne rufen, auch wenn sie nicht genau ausmachen konnte, wo sie herkam.

„Ki?", rief sie fragend, nutzte aber nicht seinen vollständigen Namen, damit niemand Verdacht schöpfte.

Ihr Blick wanderte umher. Der Rauch wurde von dem Wind ergriffen und herumgewirbelt, doch das machte die Sicht nicht sofort besser.

Ein leichtes Kratzen machte sich in ihrem Rachen bemerkbar. Der Rauch machte es ihr langsam schwer zu atmen.

Sie zog sich ihren Kragen über den Mund, auch wenn es nur leicht half. Mehr Sorgen machte sie sich um Marel, der sich nicht schützen konnte.

Gerade als sie sich zu diesem umdrehte, um den Prinzen besorgt zu mustern erklang ein dumpfer, doch sehr lauter Schlag auf dem Boden vor ihr. Der Rauch lichtete sich langsam, doch noch nicht vollkommen, ermöglichte ihr aber, Lateux, in Form des Meloceros, und Kivan auf ihm zu erkennen.

Noch während der Gestaltwandler über den Boden schlitterte, sprang Kivan bereits von seinem Rücken und rannte auf die Wand zu, auf dessen Dach Lina und Marel festsaßen. Um seine Nase und seinen Mund hatte er einen schwarzen Schal gewickelt, um nicht in einen Hustenanfall aufzubrechen. „Schnell! Wir müssen hier weg! Spring!", rief ihr Kivan eilig zu und winkte sie zu sich, dass sie zu ihm kommen sollte. Seine Stimme war eindringlich, hetzend, aber hätten sie nicht mehr als Sekunden, um diese Chance zu nutzen.

Lina dachte nicht lange nach und sprang, wobei sie mit Marel zusammen fiel. Sie wusste nicht genau, wie tief es war und so schätzte es falsch ein, was dafür sorgte, dass die Magie sie noch nicht schnell genug gebremst hatte. Sie landete und fiel förmlich in Kivans Arme.

Der Stallbursche stolperte zurück, fiel zu Boden und stöhnte schmerzlich auf, als das schwere Gewicht von Lina und dem Prinzen gemeinsam auf ihm lasteten. Mit einem kräftigen Stoß rollte er beide von sich runter und riss sich den Schal vom Gesicht, um ihn Lina in die Hand zu drücken. „Steig auf Lateux und hau mit dem Prinzen ab. Ich komme nach", wies er sie eilig an. Die Schmerzen, die er sehr wahrscheinlich hatte, schluckte er einfach runter.

„Wir können dich nicht hierlassen", sagte sie entsetzt, stieg aber bereits auf. Marel vor sich, damit sie ihn halten konnte. Sie hielt sich ihre Seite, wo der Pfeil sie getroffen hatte. Die Schmerzen dort nahmen zu. Obwohl ihr Schild den Pfeil und die damit eingehergehende Durchbohrung abgewehrt hatte, hatte der Druck trotzdem gereicht, um ihr eine riesige Druckstelle zuzufügen. Wenn sie Pech hatte, war vielleicht auch noch etwas gebrochen. Der Fall gerade hatte die Schmerzen nur noch verstärkt.

Kivan half ihr dabei, den Prinzen sicher auf Lateux zu hieven und festzumachen.

„Dafür ist jetzt keine Zeit, Lina. Er kommt klar", hallte nur die hektische, drängende Stimme des Gestaltwandlers in ihrem Kopf wider, als er sich bereits in Bewegung setzte und loslief. Lina konnte nichts durch den Rauch erkennen, doch Lateux schien genau zu wissen, wo er lang musste.

Innerlich fluchte sie, weil sie Kivan mit hineingezogen hatte. Den einzigen der Männer, der wirklich rein gar nichts mit dieser Sache zu tun hatte.

Sie krallte sich an Lateux fest und hielt Marel. Mehr konnte sie nicht tun, während sie sich auf den Meloceros verließ.

Jeder Aufprall der Hufe des Tieres schickte immer wieder Impulse des Schmerzes durch ihren Körper und veranlasste sie dazu die Augen zusammenzukneifen.

Es war noch nicht vorbei.

Schlagartig schien ihr das Licht ins Gesicht, als sie aus den Rauchschwaden sprangen und Lina erkannte die hohen Palastmauern unmittelbar vor sich. Ohne Vorwarnung sprang Lateux mehrere Meter in die Höhe, während Pfeile aus der Ferne auf sie zu surrten.

„Kopf einziehen!", hallte es befehlerisch in Linas Kopf wider und sie klammerte sich mit all ihrer Kraft an Geweih und Fell fest, als der Meloceros im Zickzack in der Luft hin und her sprang. Pfeile blieben in den Mauern stecken, während Lateux von Plattform zu Plattform immer höher sprang und Lina und den Prinzen dabei ordentlich durchschüttelte.

Lina gelang es kaum klar zu denken. Sie könnte sicher irgendeinen magischen Spruch nutzen, der ihnen helfen konnte, doch ihr Gehirn wollte nicht arbeiten. Ihr fiel einfach nichts Hilfreiches ein und so war sie darauf angewiesen, dass Lateux sie in Sicherheit brachte.

Tatsächlich schaffte Lateux es letztlich über die Mauer zu springen, als er mit einem lauten Krachen auf einem der Stadthäuser landete. Doch er hielt keine Sekunde inne und sprang weiter von Dach zu Dach, hinterließ tiefe Furchen durch seine mächtige Hufen und rannte immer weiter.

Hinweg über die ganze Stadt trug er sie, immer wieder verfolgt von Wachen und Hindernissen, doch Lateux stellte sein Geschick unter Beweis, ebenso wie seine Kraft, die sich in seiner Sprungkraft zeigte. Die Häuser boten Schutz und Verwirrung, doch ging dafür auch genügend kaputt. Erst als Lateux eine eher hilfsbedürftige, hölzerne Barrikade durchbrach, hob Lina wirklich den Blick und blickte auf die unendlich weiten Ebenen Windfalls.

Lateux hörte nicht auf zu rennen, versuchte seine Bewegungen weiterhin so unvorhergesehen wie möglich zu wählen, um nicht von möglichen Geschossen getroffen zu werden. Hier auf den weiten Feldern waren sie gefundenes Fressen ohne jede Deckung. Es wirkte zwar, als hätten sie es geschafft, doch Lina wusste, dass sie früher oder später kommen würden. Sie würde ihrer Spur folgen, sie jagen, finden und zur Rechenschaft ziehen.

Sie musste etwas tun.

Sie hatten es fast geschafft.

Das Ende war so nah, dass sie es mit den Fingerspitzen streifen konnte.

Lina blickte wieder nach vorn, bevor sie tief durchatmete und versuchte zur Ruhe zu kommen. „Lautes Grollen der Wellen", flüsterte sie leise. „Ins Dunkel gewandter Himmel." Wind zog auf, der den Geruch von Regen mit sich brachte, während sich die Wolken vor die Sonne schoben.

Magie hüllte Lina ein und umspielte ihre Haare. „Der laue Wind wandelt sich in einen Sturm." Der Wind wurde heftig und beugte das Gras, über das sie vor kurzem noch gelaufen waren. Linas Ziel war die Stadt, sodass sie erst einmal mit dem Wetter zu kämpfen hatten. „Zuckendes Licht fällt vom Himmel herab", flüsterte Lina weiter, was die Wolken dazu brachte, bedrohlich zu rumoren und schließlich sogar zu donnern und blitzen, als der erste Blitz auf die Erde hinabkrachte und es heftig rumpelte. Dazu setzte nun auch der Regen ein, der neben den Wolken dafür sorgte, dass die Lichtverhältnisse zu ihren Gunsten lagen.

Ein gewaltiges Gewitter formte sich über ihren Köpfen und hüllte nicht nur die Stadt und den Palast von Windfall ein, sondern auch die umliegenden Felder. Heftiger Regen prasselte auf die Erde nieder. Wind peitschte umher und riss einzelne Grashalme mit sich, während ein Donnergrollen nach dem anderen die Welt zum Toben brachte.

Lina knurrte leise. „Da habe ich es übertrieben", murmelte sie, bevor sie sich erschöpf an Lateux' Hals fallen ließ. „Tut mir leid", fügte sie hinzu, wobei sie das Gefühl hatte, dass sämtliche Kraft ihren Körper verließ.

Noch immer rannte der Meloceros mit vollem Tempo über die nassen Weiten, geradewegs in Richtung des nahenden, dichten Waldes, in welchem sie hoffentlich Unterschlupf finden könnten.

Lateux lachte nur ein wenig atemlos in ihrem Kopf. „Was meinst du? Lief doch eigentlich ganz gut", antwortete er zwischen drei schweren Atemzügen und lachte wieder leise, während nicht nur Lina und er, sondern auf Marel gänzlich vom Regen durchtränkt wurden.

„Welcher Veranstaltung hast du den beigewohnt?", fragte Lina mürrisch, weil sie sich zu erschöpft fühlte. Der Zauber hatte all ihre letzte Kraft geraubt, doch sie würde nicht lange brauchen, um wieder voll einsatzfähig sein. Sie hoffte nur, dass Kivan es schaffen würde und auch bei Rathan alles in Ordnung war.

Mondmagie - Windfall - Band 1 - BEENDETWo Geschichten leben. Entdecke jetzt