1. "Der mir Unbekannte, Ali."

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"Manche nennen es Arroganz, doch ich nenne es Abstand von Menschen ohne Anstand."

Ich stellte meine Tasche ab, schmiss meinen Laptop an und lief in mein Bad. Dort wusch ich mir meine Hände und das Gesicht. Zurück in meinem Zimmer wechselte ich meine Jeans durch eine Jogginghose aus.
Als sich mein Startbildschirm öffnete, ließ ich ein trauererfülltes Lächeln erscheinen. Sie waren nicht mehr da und würden auch nie mehr zurückkommen. Ich schüttelte die Gedanken ab, öffnete den Browser und gab 'ask.fm' ein.

Als ich dreißig neue Fragen sah, musste ich mit einem Kopfschütteln lächeln, da ich wusste, was für Fragen auf mich warteten. Schnell überflog ich die Fragen. 'Du bist wunderschön.' 'Ist dein Bruder noch zu haben?' 'Du bist richtig falsch. Schlampe!' Lauter solcher Fragen.
Die Komplimente kamen von Jungs, die Fragen, die an meinen Bruder gerichtet waren oder über ihn handelten von Mädchen, die nichts in der Birne hatten. Seit ihrem Tod war es nur noch schwerer gewesen den Nachnamen Alaca zu tragen. Viel zu sehr wurde er in den Dreck gezogen. Viel zu oft stimmten die Gerüchte. Alles seine Schuld. Er hatte unseren, seinen eigenen, Nachnamen in den Dreck gezogen.
Ich widmete mich wieder dem Laptop vor mir. Die beleidigenden Fragen oder Aussagen, wie man sie nennen mochte, kamen alle von meiner ehemaligen besten Freundin. Das sowas mal meine beste Freundin war...
Nur weil sie ihre Anonymität ausnutzte, hieß es nicht, dass ich nicht wusste, wer das war.

'Verwechsel dich nicht mit mir', antwortete ich auf ihre Aussage.
Als ich eine neue Frage sah, klickte ich drauf. 'Du hast heute bewiesen, was für ein wundervoller Mensch du bist. Da kann jeder über dich sagen, was er will.' Im Gegensatz zu den meisten anderen Jungs hatte er mir kein Kompliment bezüglich meines Aussehens gemacht und trotzdem meine ganze Aufmerksamkeit ergattert, was normalerweise kaum möglich war. Ich klickte auf seinen Namen. Ali. Es war nur ein Junge von hinten zu sehen. Er war gut gebaut, mehr konnte ich nicht ausmachen. 'Wovon redest du?' Stellte ich ihm die Frage. 'Du hast heute deine Freundin zum Lachen gebracht, anfangs hatte sie schlechte Laune, was sich dank dir geändert hat.' Er sprach von Tuğçe. Wie hatten uns heute nach der Schule noch in ein Café gesetzt, weil Tuğçe das gebraucht hatte. Sie hatte Stress mit ihrem Freund -mal wieder. Ich verstand gar nicht, was sie so unbedingt von ihm wollte. Er war ein Arschloch, der sie nicht zu schätzen wusste. Der ging und kam, wann er wollte. Wie er lustig war. Ich verstand bis heute nicht, wieso sie das seit über einem Jahr mitmachte. Ich schüttelte meinen Kopf und widmete mich der Frage.
'Also hast du zuvor auch wie die anderen schlecht über mich gedacht?' Bei dem Gedanken musste ich auflachen. Es war immer wieder witzig zu sehen, wie Menschen, die dich nicht kannten über dich dachten und sich ein Bild machten. Wie vieler solcher Menschen kannte ich? Mehr als genug, das stand fest.
'Ich habe nie schlecht über dich gedacht, Hira. Ich fands nur traurig, dass deine Augen nicht mitgelacht haben.' Kurz erstarrte ich. 'Wovon redest du?', tippte ich mit zittrigen Fingern ein. 'Von der Wahrheit.' Ich schluckte. Wie hatte er das gesehen? Niemand sah, dass meine Augen nicht mitlachten. Jeder dachte, dass ich das perfekte Leben führte. Perfektes Leben. Ich lachte verbittert auf. Mein Leben war alles; eine Ruine, eine Katastrophe, ein Chaos, Schmerz, Leid, Enttäschungen, Verrat, Hass -aber nicht perfekt.

'Keine Ahnung, wovon du redest', schrieb ich dem mir unbekannten Jungen. Da er einige Antworten von mir geliket hatte, hatte ich unzählige Fragen, ob wir uns persönlich kennen würden. Das konnte denen doch scheiß egal sein.
Aber so wie es schien, zog dieser Ali viel Aufmerksamkeit auf sich. Was man auf seinem Profil nicht sehen konnte. Keine einzige Frage bezüglich seines Aussehens hatte er beantwortet. Doch ich war mir sicher, dass er zig solcher Nachrichten bekam. Das zeigten mir die Reaktionen der Mädchen, die mir wegen paar Likes von ihm geschrieben hatten. Es gab unter ihnen auch welche, die mir schrieben, dass er auch bei ihnen liken soll oder auf ihre Fragen antworten soll und das sollte ich an ihn weiterleiten. Mal im Ernst hatten diese ganzen Weiber wirklich nichts in der Birne? Kopfschüttelnd loggte ich mich aus. Doch meine Gedanken schwirrten um diesen Ali. Wieso kannte er mich so gut? Wie konnte er ausmachen, ob meine Augen lächelten oder nicht? Oder spielte er nur ein falsches Spiel? Die verschiedensten Fragen rasten mir durchs Hirn und ich war kurz davor verrückt zu werden, bis mich mein Handyklingelton davon befreite.
Tuğçe hatte mir geschrieben. >Danke für den heutigen Tag Hira, es tut immer wieder gut mit dir zu sprechen.< Ich lächelte leicht und tippte ein einfaches >Bitte, gern geschehen.<
Tuğçe war es gewohnt, dass ich so stumpfe Antworten gab. Sie war die einzige Person, zu der ich Kontakt hatte, doch als meine Freundin würde ich sie nicht betiteln. Wir kannten uns seit der Mittelstufe, sie war ein echt nettes und anständiges Mädchen, ich mochte sie. Doch vertrauen tat ich ihr nicht. Ihre eigentlichen Freunde, mit denen sie ihre Pausen verbrachte, waren Mädchen, die sich das Recht nahmen, über mich zu urteilen, neben Tuğçe taten sie dies nicht oder zügelten sich zumindest, doch ich wusste, wie sie über mich dachten. So wie der Rest der Schule eben auch über mich dachte. Doch das Problem lag nicht an ihren Freunden, das Problem lag an mir. Ich hatte vertraut und hatte dafür büßen müssen. Wie hieß es so schön: too much trust sometimes kill you.
Und das war der Grund, wieso ich niemandem vertraute. Niemand sollte das gebrochene kleine Mädchen in mir sehen.

Zum Scheitern verurteiltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt