42. "Zuflucht"

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"Der Mut hat keine Zuflucht, die Feigheit tausend." - Waldemar Bonsels

Ich wusste nicht, wie lange ich in meinem Zimmer saß und die Wand voller Fotos angestarrt hatte, nachdem Ali weg war. Ohne jegliche Emotionen. Es fühlte sich alles so leer an. Meine Seele fühlte sich nicht lebendig an. Tot. Denn ich hatte mit dem Kind in Ali auch mich selbst umgebracht.

>Bin da<, hatte mir Utku geschrieben, den ich gebeten hatte zu kommen, weil wir über die Sache mit der Hochzeit sprechen mussten. Diese Sache musste geklärt werden, bevor Ali herausfand, dass ich ihn angelogen hatte. Obwohl es Hochsommer war und wir über dreißig Grad hatten, fror ich. Mein Inneres fror. Ich überstreifte mir eine Strickjacke und lief runter vor die Tür.
Utku zog mich in eine Umarmung und es ließ mich Elend fühlen. So als ob ich Ali betrog. Würde es sich immer so anfühlen? Wenn ja, wie sollte ich damit klarkommen?

"Frierst du?", fragte mich Utku irritiert, was mich nicht wunderte, denn es war echt unnatürlich, dass ich bei dem Wetter fror.
"Etwas", nuschelte ich, worauf seine Arme sich um mich verstärkten und mir eine Träne runterfloss. Verzeih mir, Ali.
Als er sich von mir trennte, sah er mich erwartungsvoll an.
"Du weißt, dass ich in weniger als zwei Monaten nach Köln ziehen werde." Er nickte. "Wie stellst du dir das dann mit uns vor?" Seine Gesichtszüge wurden härter.
"Was soll das heißen, Hira?" "Das ist eine ganz normale Frage Utku, nichts weswegen du an die Decke gehen müsstest." "Willst du Schluss machen?" Müde atmete ich durch.
"Ich habe dich lediglich gefragt, wie du dir den weiteren Verlauf unserer Beziehung vorstellst, hör auf so pikiert zu reagieren." Er atmete tief durch. "Tut mir leid, ich habe nur Angst davor dich zu verlieren." Ich nickte auf seine Worte lediglich.
"Am liebsten würde ich die Verlobung, bevor du noch gehst, stattfinden lassen." "Und was ist mit der Hochzeit?" Seine Augen leuchteten bei meinen Worten auf. "Dann wenn du bereit dafür bist." An meinen nächsten Worten verbrannte ich mich. "Ich bin es. Ich will nicht alleine nach Köln, das Alleinsein wird mit nicht gut tun. Also wenn du-" "-natürlich! Natürlich komme ich mit dir!" Er zog mich in seine Arme, enger als sonst, so dass ich das Gefühl hatte zu ersticken. Es war nicht mein Lieblingsduft, der mich umhüllte. Es war der Duft eines Fremden, nicht der meiner Kindheit.
Wie konnte ich zulassen, dass mich ein anderer Duft umhüllte? Dass sich fremde Arme um mich legten?
Als ich seine Lippen auf meinem Scheitel spürte, fing meine Seele Feuer. Du hast dich selber in diese Hölle gestürzt und wirst nun dort verbrennen.

Utku trennte sich mit leuchtenden Augen von mir. "Du weißt nicht, wie glücklich du mich gemacht hast", lächelte er, worauf ich mir auf die Lippen biss, um nicht los zu heulen. Was war mit Alis und meinem Glück?
"Wann sollen wir mit meinen Eltern vorbeikommen?" "Dieses Wochenende", brachte ich schwer raus. Utku zog seine Augenbrauen zusammen.
"Hira, ist etwas geschehen?", fragte er mich dann. "Ich muss hier raus", sprach ich gebrochen. Hier, aus diesem Haus, aus dieser Stadt, aus diesem Land, aber am meisten aus mir selbst. Aus Alis Leben.
"Was ist geschehen? Hast du dich mit deinen Eltern gestritten?" Mein Schluchzen konnte ich mir nicht mehr zurückhalten, weswegen ich anfing zu schluchzen, während die Tränen sich ihren Weg bahnten. Utku drückte mich an sich und fing an durch meine Haare zu fahren, während ich mir mit jeder seiner Berührungen immer dreckiger vorkam.
"Shht, beruhig dich, ich werde dich da rausholen und dann werden wir glücklich werden." Auf seine Worte hätte ich am liebsten laut aufgelacht, denn Glück würde mir ab heute missgönnt bleiben.
So schnell wie es mir möglich war, versuchte ich mich zu beruhigen, damit er sich von mir trennte, denn seine Berührungen waren unerträglich.
Nachdem ich noch kurz mit ihm gesprochen hatte, lief ich wieder rein. Erst lief ich in Musas Zimmer, dem ich sagte, dass er mir nach unten folgen sollte, im Wohnzimmer -wo auch meine Eltern saßen- angekommen, bat ich um Aufmerksamkeit.
"Ich werde heiraten", verkündete ich meiner Familie. Musa blickte mich verwirrt an. Meine Mutter hatte einen neugierigen Blick, während mein Vater wütend war.
"Ich lasse es nicht zu, dass du diesen Jungen heiratest! Weißt du, was für ein Licht das auf unsere Familie wirft?", schrie mich mein Vater an, der dachte, dass ich Ali heiraten würde. Wie gern ich das getan hätte, auch wenn ich dann meine Eltern gegen mich genommen hätte, doch was für eine Rolle hätte das gespielt? Sie waren nie ihren Pflichten nachgekommen, also wäre es egal gewesen.
"Nicht Ali, sondern Utku", brachte ich Licht in die Sache. "Wer soll das sein? Ist es jemand, der uns ebenbürtig ist?" Ebenbürtig, was sollte das heißen? Welch ein hässliches Wort.
"Utku Kaplan." Mein Vater sah kurz nachdenklich. "Der Sohn von Haşim Kaplan?", fragte er dann nach, weswegen ich nickte.
"Wann wollen sie vorbeikommen?" "Dieses Wochenende." Er nickte. "Okay", antwortete er nur knapp und ich hätte am liebsten laut aufgelacht. Utkus Eltern hatten ebenfalls eine ziemlich große Firma, dass er viel Geld besaß, hätte ich eigentlich an dem Wagen, den er fuhr, merken sollen, doch hatte ich nie darauf geachtet. Utku hatte mir letztens erzählt, dass unsere Firmen in Kontakt zueinanderstehen würden, wegen irgendeinem Projekt. Es wunderte mich also nicht, dass mein Vater dem zustimmte. Er würde davon profitieren.

Zum Scheitern verurteiltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt