"Liebe macht nicht blind. Der Liebende sieht nur weit mehr, als da ist." - Oliver Hassencamp
Als ich Ali betrachtete, fielen mir die dunklen Schatten um seine Augen auf. Auch generell, wenn man ihn ansah, merkte man, dass er ziemlich kaputt war. Es tat mir unheimlich leid, dass ich ihm das angetan hatte. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es ihm ergangen war, als er mich in der Badewanne voller Blut entdeckt hatte. Es müsste grauenvoll sein.
"Es tut mir leid", nuschelte ich und hörte nur wie er scharf die Luft einsog.
"Am liebsten würde ich ja sagen, es ist okay, aber das ist es nicht Hira. Nicht dieses Mal. Du weißt nicht, was für ein Gefühl es war dich so zu sehen und beschreiben kann ich es nicht, dafür reicht mein Wortschatz nicht aus. Die ganze Zeit habe ich gehofft, dass dein Herz nicht aufhört zu schlagen." Er holte tief Luft. "Wieso? Ständig stelle ich mir die Frage, wieso du das getan hast? Was hat dich dazu verleitet?" Kurz schwieg ich, suchte nach den richtigen Worten.
"Ein Anruf von meiner Mutter. Sie hat mir nur bewiesen, wie wenig ich ihr bedeute." Kurz lachte ich über meine Worte. "Dass ich ihr gar nichts bedeute", korrigierte ich dann. Es war keine Lüge, nur die Halbwahrheit. Der Anruf meiner Mutter hatte mir den Rest gegeben. Es war das Tröpfchen, welches das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Die Sache mit dem Antrag hatte mich zutiefst erschüttert, aber ich hatte nicht daran gedacht, mir das Leben zu nehmen, denn ich war nicht verzweifelt, ich war wütend. Vielleicht hätte ich zu der Klinge gegriffen, aber nicht auf diese Art und auch nur vielleicht. Doch der Anruf meiner Mutter hatte mich zerstört. Seit über einer Woche sah ich sie nicht und in dem Moment hatte ich es nötig gehabt sie bei mir zu haben, zumal sie aus meiner Stimme gehört haben musste, dass es mir dreckig ging.
"Hira", sprach Ali so behutsam, dass ich mir vorkam, als sei ich aus dünnem Glas, welches bei ungenügender Vorsicht zerbrechen könnte. Als ich zu ihm sah, merkte ich, wie ihm die Worte fehlten. Die Worte, die mir Balsam sein sollten. Doch wusste er denn nicht, dass seine Anwesenheit genug Balsam und Heilung hießen?
"Es wird nicht mehr vorkommen, versprochen", versprach ich ihm, weswegen er mich eine Weile musterte und dann nur nickte."Liebst du sie?", fragte ich nach einer Weile der Stille.
"So wie mein Vater meine Mutter, Mirsad Mizgin, Agit Sultan, mein Großvater meine Großmutter" Bei seinen Worten verengte sich mein Brustkorb.
"Nein, nicht auf diese Art und Weise", ergänzte er dann, weswegen mein Kopf, den ich gesenkt hatte, in die Höhe schnellte.
"Meyra hat seit längerer Zeit Gefühle für mich, ich rede nicht von Wochen, sondern von Monaten. Vermutlich hatte İshak damals recht, es war keine gute Idee Mädchen in unsere Gruppe zu involvieren. Die Sache mit dem Antrag schien mir das Richtige zu sein. Ich glaube, wenn du mit jemandem verheiratet bist, der dich liebt, dann wird das irgendwie schon. Deswegen sage ich zu dir ja, dass Utku ein guter Junge ist, er würde dich nicht enttäuschen." Kurz schloss ich meine Augen, das waren zu viele Informationen auf einmal.
Ali liebte Meyra nicht, zumindest nicht so wie ich ihn liebte, aber dafür Meyra ihn. Und ich sollte Utku eine Chance geben. Aber warum?
"Warum willst du so unbedingt, dass ich Utku eine Chance gebe?", fragte ich, nachdem ich meine Augen geöffnet hatte und zu ihm blickte.
"Weil ich denke, dass er dich glücklich machen würde. Aber ich kann dich zu nichts zwingen, es ist dir überlassen, wofür du dich entscheidest. Nur denke ich einfach, dass er der Richtige für dich sein könnte." Der Richtige für mich, sah er denn wirklich nicht, dass er es war? Der Richtige.
"Mag sein, doch ich will niemanden an meiner Seite." Ali nickte.
"Hira, ich will nicht dass, du denkst, dass ich dich vernachlässigen werde. Mag sein, dass Meyra an meiner Seite steht, aber das ändert nichts an meinen Prioritäten. Für meine Geschwister würde ich alles stehen und liegen lassen, falls sie mich brauchen würden, du gehörst dazu." Ein Lächeln zierte meine Lippen. Ein bitteres Lächeln. Nur seine beste Freundin, flüsterte mir meine innere Stimme voller Hohn zu.
Als es an der Tür klopfte, war ich froh darüber. İlyas und İsra betraten den Raum.
"Hira Abla, wir haben uns so lange nicht mehr gesehen", trillerte İsra, was mich erstaunte. Ich hätte eher mit sowas wie: Wie geht es dir? Wieso hast du sowas getan? gerechnet.
"Das stimmt. İlyas habe ich öfters gesehen, wärst du doch auch gekommen." "Abi hat es mir nicht erlaubt", schnaubte sie und musterte İlyas wütend.
"İlyas hat es dir nicht erlaubt? Sicher, dass es nicht İshak war, der dir das verboten hat?", fragte ich verwirrt, was alle zum Lachen brachte.
"Nein, İshak Abi mischt sich in meine Angelegenheiten nicht ein, er ist eher wie ein guter Freund als ein älterer Bruder, natürlich wenn es sein muss, dann mischt er sich schon ein, aber nicht so wie İlyas Abi, der lässt mich kaum atmen." Mit großen Augen sah ich zu İlyas.
"Ich habe mir ja immer Sorgen um das Mädchen gemacht, das İshak mal heiraten wird, aber jetzt mache ich mir ernsthafte Sorgen um das Mädchen, dass dich heiraten wird." Die drei fielen in schallendes Gelächter und ich stimmte mit ein.
"Vertrauen ist gut, Kontrolle besser", brachte İlyas nur von sich.
"Seit Monaten kenne ich dich, aber nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass du ein Macho bist! İlyas, du machst mir Angst." Erneut lachten wir alle und in der gesamten Zeit, in der die zwei Geschwister im Zimmer waren, wurde viel gelacht. Kaum zu fassen, dass die beiden die jüngeren Geschwister eines Kühlschranks waren.
Über meine eigenen Gedanken musste ich leicht lachen, weswegen Ali überrascht zu mir sah, da wir nur noch zu zweit im Zimmer waren.
"Wieso lachst du?" Als ich ihm meine Gedanken mitteilte, lachte auch er.
"İshak ist wirklich ein Fall für sich. Aber wenn man ihn wirklich kennt, dann merkt man, dass er ein Herz aus Gold hat. Er ist einfach nur extrem direkt und distanziert, zumindest zu Leuten, die nicht zu seiner Familie zählen, du hast ja gesehen, dass er innerhalb der Familie ein anderer Mensch ist. Doch seine direkte Art hat er auch in der Familie. Diese direkte Art schreckt Menschen ab, weil wir mittlerweile alle so sehr auf Höflichkeit legen und dabei gar nicht merken, dass wir anfangen zu lügen. All das hat nichts mehr mit Höflichkeit zu tun. İshak ist da nicht so. Er macht sich keine Gedanken um irgendwelche Benimmregeln, vielleicht ist das nicht immer ganz so gut, da es manchmal wirklich hart wirkt, aber es ist seine Art. Meine Mutter sagt, dass sich das die nächsten Jahre legen wird, zumindest wird er etwas mehr auf seine Formulierungen achten, meine Tante soll auch so gewesen sein, bis heute hat sie eine sehr direkte Art, nur formuliert sie das mittlerweile so, dass es nicht zu hart oder gar respektlos wirkt." Ich musste an das heutige Gespräch mit seiner Tante denken, da war mir auch schon aufgefallen, dass sie eine sehr direkte Art hatte. Und dann daran wie İshak uns als dumm beschimpft hatte, ob ich das als direkt oder einfach nur als taktlos bezeichnen würde, wusste ich noch nicht.
"Ali", hörten wir seine Tante rufen.
"Ich geh mal kurz schauen", gab mir Ali Bescheid und verschwand dann, doch nur um kurz darauf mit einem Tablett wieder zu erscheinen. Auf dem Tablett befand sich Essen, was dafür sorgte, dass ich mich nur noch schlechter fühlte. Ich machte diesen Menschen Umstände, fiel ihnen zur Last.
"Du machst uns keine Umstände, Hira. Meine Tante kocht doch so oder so, schließlich hat sie eine Familie." "Woher wusstest du-" "-du vergisst, dass ich in deinen Augen lesen kann, was du denkst, deine Mimik verrät dich zusätzlich", erklärte er mir. Er ließ das Tablett auf der Kommode neben mir ab. Als ich nach dem Löffel greifen wollte, legte Alis Hand sich sanft auf meine.
"Du sollst deine Handgelenke möglichst nicht bewegen. Deine Nähte sind frisch Hira, wir wollen nicht, dass sie aufgehen." "Wie soll ich dann essen, Ali?" "Wozu bin ich da?" Kurz verschlug es mir die Sprache.
"Nein, ich schaffe das schon", sprach ich, doch konnte nicht behaupten, dass meine Stimme fest war. Ich wollte ihm nicht mehr so nah stehen, mit ihm so viel teilen, weil ich wusste, dass mir der Abschied von ihm nur noch schwerer fallen würde. Wenn er irgendwann mit Meyra verheiratet war, dann wäre alles nicht mehr so leicht. Vor allem unsere Freundschaft nicht. Ich könnte ihn dann nicht nachts rausrufen, weil ich ihn brauchte. Mir war bewusst, dass Ali all das für mich tun würde, ohne wenn und aber, denn auch für seine Geschwister würde er das tun. Doch ich war nun einmal nicht seine Schwester. Und das könnte für Meyra ein Problem darstellen, was ich verstehen würde. Aber abgesehen davon fühlte ich mich schlecht, fast schon als ob ich Ali hintergehen würde, denn während ich Gefühle für ihn hatte, sah er mich mit ganz anderen Augen. Wie sollte ich da kein schlechtes Gewissen haben? Nicht mal seine Nähe konnte ich genießen, da ich es einfach nicht schaffte meine Gefühle auszuschalten, aber ich musste es tun, sie gehörten nicht hier hin.
"Hira", hörte ich Alis besorgte Stimme und sah zu ihm. "Ist alles okay bei dir?" "Ja, ich war nur in Gedanken versunken."
Er musterte mich, nickte dann und griff nach dem Löffel.
"Ali!", protestierte ich, doch er ging gar nicht darauf ein.
"Öffne deinen Mund", befahl er mir nur.
"Ich bin kein Kleinkind!", protestierte ich weiter.
"So wie du dich gerade benimmst, machst du aber diesen Eindruck", grinste er mich frech an. Sein altbekanntes freches Grinsen, in welches ich so vernarrt war.
"Du Idiot!", schimpfte ich, doch brach kurz darauf in schallendes Gelächter aus, Ali stimmte mit ein.
Letztendlich gewann dann doch Ali, weswegen er mich wie ein kleines Baby fütterte, es war mir unangenehm. Doch mein Herz, welches nur für Ali schlug, genoss es in vollen Zügen, auch wenn mein Verstand ihm immer wieder zubrüllte, dass es falsch war, dass es meinem Herzen unheimlich wehtun würde, mein dummes Herz wollte nicht hören. Es erwärmte sich mit Alis Gesten, mit seiner Nähe, mit seinem frechen Grinsen, einfach mit allem was Ali tat und war. Wenn mein vor Liebe verdummtes Herz doch nur begreifen würde, dass es sich selber in sein eigenes Unglück stürzte.
"Ich bin wirklich satt!", sprach ich dieses Mal ernst aus.
"Hira, du musst essen, das ist wichtig." "Ali, ich esse doch schon! Aber die letzten Tage habe ich geschlafen und alles über die Infusionsnadel bekommen, wie erwartest du da, dass ich auf einmal so viel essen soll?" "Hira hat Recht, Ali. Überfordere ihren Magen nicht", hörten wir eine Stimme sprechen und sahen beide zur Tür, wo seine Tante stand.
"Ich wollte nach dir schauen, Hira. Habe dann die Tür offen entdeckt", erklärte sie uns, was ich ziemlich süß fand.
"Komm rein Teyze", bat Ali sie mit einem Lächeln. Als sie das Zimmer betrat, sah ich das Verbandszeug in ihren Händen und öffnete deswegen meine Handgelenke. Ali stand von dem Stuhl auf, um seiner Tante Platz zu machen, wofür sie sich bedankte.
Während sie die alten Verbände abmachte, sprach sie mit mir, was ich sehr zuvorkommend fand, weil die Stille mich sonst erdrücken würde.
"Ich habe von Ali erfahren, dass du Medizin studieren willst." "Ja, leider wird mein Schnitt nicht ausreichen, deswegen werde ich erst eine Ausbildung als Op-Assistentin machen." "Finde diese Idee gar nicht so verkehrt, vor allem weil man dann wirklich feststellt, ob man dem überhaupt gewachsen ist. Es ist nicht leicht, wenn dir Patienten wegsterben." "In welchem Bereich arbeitest du?", fragte ich sie interessiert.
"Notfallchirurgie." Ich verzog leicht mein Gesicht qualvoll.
"Habe ich dir wehgetan?", fragte sie entschuldigend.
"Nein nein, nur hat mich der Gedanke der Notfallchirurgie gerade mitgenommen." "Es ist nicht leicht, manchmal sieht man Sachen, die man am liebsten sein ganzes Leben nicht sehen wollen würde. Vor allem Motorradunfälle", erklärte sie mir, während meine Handgelenke entblößt waren.
"Die Überlebensrate ist nur sehr gering, so viel ich weiß", sagte ich.
"Das ist sie tatsächlich, weil du im Gegensatz zu einem Auto keinen Schutz hast. Hinzu kommt natürlich noch, dass Motorradfahrer sehr leichtsinnig und schnell fahren. Die Wahrscheinlichkeit, dass Motorradfahrer bei einem Unfall überleben, ist sehr gering und falls, dann nur mit sehr großen irreparablen Schäden. Nicht jeder kommt einfach so davon oder kriegt eine zweite Chance. Deswegen habe ich dir gesagt, dass du verdammtes Glück hattest Hira." Nach ihren Worten suchten meine Blicke Ali. Er schenkte mir nur ein mattes Lächeln, sah dann auf meine Handgelenke und wandte seine Blicke gequält ab. Die Qual in seinem Gesicht schmerzte in meinem Herzen.
"So, das wäre es dann", weckte mich die Stimme seiner Tante aus meinem Schmerz.
"Die Wunde scheint schnell zu verheilen, da hast du echt Glück, Hira. Ich denke in vier Tagen kann ich die Fäden rausziehen, dann kannst du dich auch wieder etwas freier bewegen." "Danke." "Für alles", ergänzte ich.
"Nichts zu danken, das ist mein Beruf." "Das hier schon", sprach ich auf meine Handgelenke deutend. "Aber der ganze Rest nicht." "Mach dir darum keine Gedanken", lächelte sie mich an, sah noch kurz lächelnd zu ihrem Neffen und verließ dann das Zimmer.
Eine Weile lang unterhielt ich mich mit Ali, bis ich spürte, wie meine Augenlider immer schwerer wurden.
"Falls was sein sollte, ich bin im Nebenzimmer", hörte ich meine Lieblingsstimme noch und fiel dann in einen tiefen Schlaf.Hoffentlich hattet ihr viel Spaß beim Lesen meine lieben Zuckermenschen! ❤
Und nochmals ein riesengroßes DANKESCHÖN für die mega Unterstützung, vor allem in den letzten zwei Kapiteln, ihr seid echt Zucker 🙈❤Eure Verâ ♡
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Zum Scheitern verurteilt
Genel Kurgu"Sie waren gemeinsam in den Strömen dieser Welt und stürzten einsam von den Klippen dieser Welt." Da stand er nun vor mir. Schmerz spiegelte sich in unseren Augen wider. Wir hatten verloren. Wir hatten uns selbst verloren. Wann war das nur geschehe...